Lebensberichte

Rückblick auf mein Leben

Eveline H., Betroffene

15. September 2002, ein schöner sonniger Spätsommertag - ich sitze hier an meinem Plätzli am Thunersee, schaue auf das tiefblaue beruhigende Wasser und in die Ferne auf das wunderschöne Bergpanorama. Das leise Rauschen der Wellen lässt meine Gedanken schweifen...

... zurück in meine Vergangenheit, jetzt in meine Gegenwart und voraus in meine Zukunft...

Die Rückblende auf die vergangenen sechs Jahre fällt sehr schwer und braucht Überwindung...

Wie konnte es nur soweit kommen? Wieso musste das nur passieren? Ein grosser tiefer Einschnitt in mein Leben; Tage, Wochen, Monate, ja sogar Jahre, die ich nie vergessen werde und immer ein Teil meines Lebens bleiben werden.

Durch eine totale Erschöpfung, physisch und psychisch, bin ich in eine schwere Erschöpfungsdepression gefallen. Mein Zustand war so schlimm, dass ich mich mehrmals stationär in Kliniken aufhalten musste.

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Als ich angefragt wurde, ob ich mein Leben in und mit der Krankheit hier zusammenfassend schildern könnte, war für mich klar, dass ich das tun werde:

Vielleicht kann ich mit meiner Geschichte und meinen Erfahrungen anderen Menschen helfen, die das gleiche durchmachen müssen; ich wünsche es mir...

Vielleicht kann ich unseren 'gesunden' Mitmenschen näherbringen, wie ein Betroffener lebt, und was er durchstehen muss; ich wünsche es mir...

Vielleicht kann ich dazu beitragen, dass die Krankheit Depression von unserem Umfeld endlich ernstgenommen und als solche akzeptiert wird; vor allem das wünsche ich mir, denn es ist einer der wichtigsten Aspekte, der uns das Leben mit der Depression um einiges leichter macht.

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Die meisten Menschen sind in ihrem Leben einmal oder mehrmals depressiv. Es ist eigentlich nicht ungewöhnlich, sich aufgrund von Enttäuschungen, Beziehungsproblemen, Unglück, Tod eines nahen Angehörigen oder anderen ähnlichen Ereignissen deprimiert, frustriert, verletzt oder traurig zu fühlen. Dies ist meiner Meinung nach eine normale Reaktion, die ausgelöst wird.

Was ist nun aber eine wirkliche Depression? Die Depression ist eine sehr schwere Krankheit, die nicht fassbar und nicht sichtbar ist. Und deshalb können sich Menschen, die nie eine Depression gehabt haben, nicht in die Lage Betroffener versetzen und ihr Verhalten nicht verstehen. Und genau das ist es, was uns das Überleben dieser Krankheit zum Alptraum macht.

Ein an Depression Erkrankter braucht Mut, enorme Energie und Kraft für alles, was er tut. Allein schon das Lesen dieser Zeilen erfordert viel Überwindung, denn dies wird in der Depression fast unmöglich. Die Konzentration ist reduziert, jede Seite, ja sogar jeder Satz wird zur Last, man kann in seiner Leere nichts mehr aufnehmen. Vielleicht schaffen Sie´s trotz allem folgende Zeilen zu lesen; es ist sehr schwer, wäre aber bereits ein erster grosser Schritt. Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinen Erfahrungen und Gedanken helfen und Mut machen kann, nicht aufzugeben, sondern Geduld zu haben und Ihren Weg weiterzugehen.

Ich habe die Depression in schwerem Ausmass erlebt, und sie ist heute noch mein Begleiter. Gewiss, jeder erlebt die Krankheit und den Verlauf ein wenig anders. Es sind auch unterschiedliche Ursachen dafür verantwortlich. Aber es gibt einige entscheidende Krankheitssymptome, die jedem von uns Betroffenen das Leben schwer machen. Ich möchte in meinem Bericht nicht auf die verschiedenen Ursachen eingehen, sondern vielmehr auf die Auswirkungen und den Umgang damit. Hierzu möchte ich schildern, wie es mir ergangen ist, und was mir geholfen hat, den Weg aus diesem Teufelskreis zu finden. Vor allem möchte ich Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind und ihr Zustand ernstzunehmen ist.

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Das erste Mal, als mir bewusst wurde, dass etwas mit mir nicht stimmte, war am

8. März 1996. Ich hatte abends eine totale Krise, einen Erschöpfungs- und Nervenzusammenbruch mit starkem Weinen und Zittern. Ich sah nur noch schwarz, konnte nicht mehr, wusste nicht, wie ich mein Leben noch schaffen sollte. Auslöser damals war eine totale innere Unruhe aufgrund eines strengen Arbeitstages sowie eine bevorstehende Prüfung am nächsten Tag. Zum Abklingen dieser Krise verhalf mir mein damaliger Freund, er war für mich da, beruhigte mich und machte mir Mut. Ich weiss nicht was passiert wäre, wenn ich alleine an mein Plätzli am See gefahren wäre... ja, mein Plätzli am See, dort, wo ich immer Zuflucht suchte, wenn ich mit meinen Nerven am Ende war.

Es war mir einfach alles zuviel geworden. Zu diesem Zeitpunkt realisierte ich jedoch noch nicht, dass meine Erschöpfung einen kritischen Zustand erreicht hatte. Es war mir nicht bewusst, wie ernst die Lage war. Ich glaube, ich wollte es einfach nicht wahrhaben.

Ich nahm mir schon in meiner Kindheit viel zu wenig Freizeit, immer lernte ich und dies sehr gerne. Als ich meine Ausbildung an der Handelsmittelschule abgeschlossen hatte, trat ich meine erste Arbeitsstelle als Sekretärin an. Die Arbeit war sehr interessant und gefiel mir, obwohl ich bald einmal merkte, dass ich an dieser Stelle oft mehr als 100% arbeiten musste. Aber das war und ist nun mal mein Wesen. Es machte mir nichts aus, im Gegenteil. Ich hatte grosse Freude an meinem Job, engagierte mich voll und ganz und identifizierte mich mit meiner Arbeit. Kurze Zeit später wurde ich dann zur Sachbearbeiterin befördert und im April 1995 übernahm ich die Geschäftsführung des Vereins. Dann ging es erst richtig los.

Ich hatte nun die volle Verantwortung. Es lag mir alles daran, dass der Betrieb gut lief, und wir die Beratungen und den Einsatz für unsere Kundschaft zur vollsten Zufriedenheit ausführten. Ich brachte neue Ideen ein, realisierte neue Dienstleistungen und Projekte, was natürlich auch grossen Mehraufwand erforderte. Unsere Mitglieder und der Präsident der Organisation freuten sich sehr über unseren Erfolg. Da die finanziellen Mittel knapp waren, konnten wir jedoch keine neue Arbeitskraft einstellen und so kam es, dass ich immer wieder Überstunden, d.h. Abend- und Wochenendarbeit machte. Was ich dabei nicht realisierte - dass ich meine Grenzen oft überschritten hatte. Sehr zu schaffen machte mir auch der Neid einiger Mitarbeiterinnen. Sie gönnten es mir nicht, dass ich mit 23 Jahren bereits Geschäftsführerin war.

Da ich seit jeher eine einsatzwillige, strebsame und ehrgeizige Person war, besuchte ich nebst all der Arbeit noch Abendkurse und absolvierte Prüfungen, die mir bei der Ausübung der Arbeit sehr nützlich waren.

Auch in meiner Familie gab es zu dieser Zeit Probleme. Meine Eltern hatten öfters Auseinandersetzungen, sie hatten sich vollkommen auseinandergelebt. Ich bekam diese Unruhe natürlich mit, war immer für sie da und half ihnen soweit ich konnte. Überhaupt war ich immer für andere Menschen da. Wenn jemand meine Hilfe, meinen Rat oder meine Unterstützung brauchte, war ich für ihn da. Ich gab alles, denn es war mir so wichtig, dass es allen um mich herum gut ging - dass ich dabei auch mal an mich und meine Bedürfnisse denken sollte, bedachte ich nicht...

Heute ist mir klar, dass es aufgrund meiner damaligen Lebensweise zu einem Zusammenbruch kommen musste...

Durch die totale physische und psychische Erschöpfung konnte ich auf mich zukommende Probleme immer schlechter verarbeiten und bewältigen, ich war einfach zu schwach. Und gerade jetzt häuften sich schwere Ereignisse in meinem Leben. Da war der Umzug mit meinen Eltern in eine kleinere Wohnung infolge der erneuten Arbeitslosigkeit meines Vaters. Dies liess mich auch an eine sehr schlimme Zeit im Jahre 1990 erinnern, als die Firma meines Vaters Konkurs ging, und wir demzufolge kurzfristig unser Haus räumen mussten. Ich hatte meinen Eltern in dieser Situation natürlich beigestanden und geholfen, wie ich nur konnte; aber mit meinen damals 17 Jahren war das für mich doch eine grosse Konfrontation mit der Realität und ein heftiger, vielleicht zu schneller Einstieg ins Erwachsenwerden.

Kurz nach dem Umzug folgten zwei Todesfälle; mein geliebter Onkel in Deutschland wie auch mein treuer naher Begleiter Hund Peggy hatten uns verlassen. Vierzehn Jahre war Peggy tagtäglich um uns, ein richtig dazugehörendes Familienmitglied. Kurz darauf erkrankte eine meiner nahestehenden Kolleginnen an Brustkrebs, woran sie ein paar Jahre später leider auch verstorben ist. Dazu kamen noch einige Unstimmigkeiten in meiner Partnerschaft. Je erschöpfter ich wurde, desto weniger konnte ich diese Geschehnisse verarbeiten. Und vor lauter Stress habe ich immer alles verdrängt.

Eine Lebensweise, die ja gar nicht gesund sein kann...

Nach einiger Zeit brachten mich bereits die kleinsten Alltagsprobleme zum Weinen und Verzweifeln. Das kam immer häufiger vor. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich konnte nichts dagegen tun. Zuerst hatte ich diese Krisen einmal pro Woche, dann immer öfters, alle drei Tage, schlussendlich jeden Tag. Meistens abends, wenn ich aus dem Büro kam und nach Hause fuhr, ab und zu aber auch schon morgens wenn ich zur Arbeit fuhr - der Stress tagsüber im Geschäft liess mir wahrscheinlich keine Zeit und keinen Platz dazu...

Ich war zu erschöpft, konnte nicht mehr... Es kam mir vor, als wenn ich einen Rucksack anhätte, diesen vollpackte, immer voller, noch voller, bis schlussendlich wirklich nichts mehr hineinpasste und die Belastung, das Gewicht, mich erdrückte.

Kaum fragte mich jemand, wie es mir geht, kamen mir die Tränen. Ich konnte nicht mehr mit Freundinnen oder anderen Menschen zusammensein. Jeder kleinste Lärm, jede Unterhaltung, auch wenn sie nicht mit mir abgehalten wurde, waren der reinste Horror für mich. Sogar der Fernseher, Staubsauger oder das Klappern des Geschirrs empfand ich als furchtbares, unerträgliches Gefühl. Das war für mich eine so bedrohende Unruhe, und ich hatte Angst durchzudrehen. Ich wurde in solchen Momenten richtig aggressiv, vor allem zu Hause gegen meine Mutter. Ein paar Stunden später bereute ich das sehr und machte mir schwere Vorwürfe; das Ganze war für mich unmöglich zu verstehen.

So oft es ging, flüchtete ich in mein Auto oder an mein Plätzli am See. Hier konnte ich weinen, ohne jemandem aufzufallen... Ich wollte allein sein, niemandem zeigen, wie es mir geht. Aber das war auch sehr hart, denn so fing ich noch mehr an zu grübeln, war total in meinen Gedanken gefangen. Die Wochenenden waren wahnsinnig schlimm für mich. Im Büro erzählten mir meine Mitarbeiter/innen oft, was sie vorhaben, schwärmten, freuten sich. Und ich? Sie wünschten mir ein schönes Wochenende, aber niemand ahnte nur im geringsten, wie meine zwei freien Tage aussehen würden. Was ist das für ein Leben?!

Zu dieser Zeit musste ich auch meine zweijährige Beziehung beenden. Ich wusste einfach nicht, was da mit mir geschah, was ich eigentlich hatte. Ich war immer müde, hatte absolut keine Lust mehr etwas zu unternehmen, keine Freude mehr. Auch gefühlsmässig war´s unbegreiflich. Ich fühlte mich richtig versteinert und kalt, konnte meinem Partner keine echte Liebe mehr entgegenbringen. Es tat mir unheimlich leid, ihn verlassen zu müssen, aber ich sah keine andere Möglichkeit. Ich musste zuerst wieder zu mir finden und Klarheit über meinen Zustand schaffen. Ich verstand mich ja selbst nicht mehr - heute weiss ich, dass dies bereits Anzeichen meiner Depression waren.

Ich hatte lange, ja sehr lange mit mir selbst gekämpft, dachte immer, das gehe schon wieder vorbei, das sei nur so eine Erschöpfungskrise. Im Büro und bei meiner Familie überspielte ich alles, obwohl ich schon sehr früh das Lachen verloren und verlernt hatte. Aber ich wollte einfach nicht, dass meine Mitmenschen etwas bemerkten. Ich wollte es mir ja selbst auch nicht eingestehen sondern weiterhin stark bleiben, so wie ich es immer war in meinem bisherigen Leben. Jeden Abend sagte ich mir: "Morgen geht es bestimmt besser". Ich dachte, wenn ich mir einrede, es gehe mir gut, dann geht es mir auch gut; bestimmt besser, als wenn ich mich selbst bemitleide.

Aber auch mein Körper gab mir Alarmzeichen: Magenprobleme, Migräneanfälle, Herzrhythmusstörungen, Atemnot, Beinschmerzen, alles tat mir weh. Deswegen war ich auch seit einiger Zeit in ärztlicher Behandlung. Mein Hausarzt ist ein sehr guter, einfühlsamer Mensch. Er merkte sogleich, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war, sagte mir aber nicht gleich zu Beginn, dass mein Gesundheitszustand wahrscheinlich psychosomatisch bedingt war. Er wollte zuerst abklären lassen, ob meine Beschwerden nicht auf andere Ursachen zurückzuführen sind. Meine behandelnden Ärzte und Therapeuten redeten auf mich ein, ich solle mein Leben ruhiger nehmen und auf mich achten, das würde sonst mal böse enden! Wie, böse enden? Ich konnte mir überhaupt nichts darunter vorstellen, nahm diese Warnungen einfach nicht ernst, dachte immer noch, ich würde schon durchhalten bis eine Besserung eintritt. Die Aufbaumedikamente meines Arztes würden meine baldige Genesung bestimmt gut unterstützen.

Aber - der endgültige Zusammenbruch kam, es ging gar nichts mehr. Nun wusste ich echt nicht mehr, wie ich mir noch helfen konnte. Ich konnte mir meinen Zustand nicht mehr erklären und steuern, war total macht- und hilflos, viel zu schwach, total überfordert. Es blieb mir keine andere Wahl - ich vertraute mich voll und ganz meinem Hausarzt an. Da es so unmöglich weitergehen konnte, verschrieb er mir einen Rehabilitationsaufenthalt in einer guten Klinik. Diagnose: Erschöpfungsdepression. Es sei dringendst nötig, dass ich zur Ruhe komme, Abstand von der Arbeit, von zu Hause und von Freunden habe, mich erholen und wieder aufbauen könne.

Die Zeit vor meinem Klinikeintritt war der reinste Horror. Mein Chef riet mir, meinen Mitarbeiter/innen zu sagen, ich gehe in die Ferien und nicht zu einer ärztlich verschriebenen Rehabilitation. Meine Familie wusste damals noch nicht, wie schlecht es mir ging; ich konnte es ihnen einfach nicht sagen. Ich schämte mich so und wollte sie auch nicht damit belasten. Zu der Zeit wusste ich ja selbst nicht genau, was eigentlich mit mir los war.

Ich fühlte mich total einsam. Einerseits war ich froh, zur Reha gehen zu können, andererseits hatte ich grosse Angst davor. Ich wusste überhaupt nicht, was da auf mich zukommen würde. Es war ein sehr eigenartiges Gefühl. Niemand verstand mich, niemand konnte mit mir fühlen, denn niemand wusste, wie es mir wirklich ging.

Ich kann mich noch genau erinnern. Am Abend vor meiner Abreise war ich wie gewohnt an meinem Plätzli am See. Ich sass auf meiner Bank. Es war dunkel, einzelne Lichter aus Fenstern von Wohnhäusern am gegenüberliegenden Ufer waren zu sehen. Überall sah ich Menschen, glückliche, 'normale' Menschen vor mir. Weshalb konnte ich nicht so sein? Ein ganz 'normales', zufriedenes, glückliches Leben führen?

Das leise Rauschen der Wellen... da sass ich, alleine, weinend, am ganzen Körper zitternd. Ich hatte Angst, grosse Angst. Was wird auf mich zukommen? Wieso ist es nur soweit gekommen? Ich bin doch erst 24 und muss in eine Klinik! Wieso habe ich es nur soweit kommen lassen? Ich machte mir Vorwürfe, schwere Vorwürfe, dass ich mir nicht vorher Sorgen um mich selbst gemacht hatte. Aber meine Ärzte und Familie konnten mich noch so oft warnen, ich hatte sie nicht beim Wort genommen. Ich hätte nie, aber auch nie gedacht, dass ich einmal in meinem Leben in einem so schrecklichen tiefen Loch sein und zusammenbrechen würde.

Ich hätte mein Leben am liebsten aufgegeben. Heute weiss ich nicht mehr, was mich davon abhielt, und wo ich die Kraft her nahm, wieder nach Hause zu fahren. Zu Hause angekommen, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb... schrieb meine Sorgen und Ängste nieder.


Erster Klinikaufenthalt

9. März 1997, Tag der Abreise nach M. Die ersten Tage in der Klinik waren schwer. Ich begann plötzlich zu begreifen, was mit mir geschehen war und geschieht. Erst jetzt realisierte ich richtig, dass mein Gesundheitszustand wirklich ernst und sehr schlecht war.

Der Aufenthalt in M. hat mir sehr gut getan. Ich bin meinem Arzt dankbar, dass er mich dorthin geschickt hatte. Es war wirklich notwendig, denn ich war mit meinen Kräften am Ende. Meine Krisen waren, wie mir die Ärzte in der Klinik mitteilten, Erschöpfungs- und Nervenzusammenbrüche. Ich hätte schon beim ersten grossen Zusammenbruch, also im März 1996, Alarm schlagen sollen...

In der Klinik hatte ich viele Therapien, vor allem Physiotherapie aber auch Psychotherapie. Mit meiner Psychologin verstand ich mich von Beginn an sehr gut. Ich konnte ihr alles erzählen und hatte volles Vertrauen zu ihr. Sie liess mich auch Bilder malen. Es ist erstaunlich, was man aus dem Malen herauslesen kann. Mein Physiotherapeut brachte mir viel über meinen Körper bei und lehrte mir, mehr auf körperliche Warnsignale zu hören.

Ich hatte einen sehr grossen Willen, wollte unbedingt wieder gesund, fit, aufgestellt und lebensfreudig werden, so wie früher. Und dies so schnell als möglich. Die Ärzte sagten mir jedoch, mein Wille sei zu gross, es gehe lange, bis ich wieder gesund sei, ich müsse Geduld haben. Und genau das fehlte mir, die Geduld. Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass ich in einer schweren Krise stecke, krank bin. Nein, ich konnte es einfach nicht annehmen und zulassen. Das Ganze war für mich so unfassbar.

Geplant war ein Klinikaufenthalt von vier Wochen, bleiben musste ich aber sechs Wochen. Nach vier Wochen war ich überhaupt noch nicht soweit, wieder nach Hause und zur Arbeit gehen zu können. Ich war jedoch total unter Druck. Mein Chef, meine Mitarbeiter/innen, Bekannten und Freunde, sogar auch meine Familie erwarteten, dass ich nach vier Wochen Klinikaufenthalt - schöner Kuraufenthalt, wie sie es nannten - wieder gesund und topfit voller Energie zurückkehre. Und dadurch erwartete ich das auch von mir selbst und setzte mich total unter Druck. Aber es war ganz eigenartig, im Kopf wollte ich schnell gesund werden, wollte wieder "die Alte" werden, aber im Körper merkte ich deutlich, dass ich gar nicht so weit war. Plötzlich meldete sich da eine innere Stimme, die mir das vor Augen führte.

Da ich mich aber so unter Druck setzen liess, bekam ich oft Panikattacken. Ich kam in schreckliche Panik, sah Pfeile von überall her auf mich einstechen, sah Berge Arbeit und eine Menge Menschen mit Wünschen und Anforderungen vor mir und kam so immer mehr in diese Panik hinein. Ich weinte, zitterte am ganzen Körper und glaubte, die Kontrolle über mich zu verlieren. Zum Glück konnte ich am Bett nach der Krankenschwester klingeln. Sie sass bei mir, versuchte mich zu beruhigen, gab mir Beruhigungsmedikamente und sprach mit mir. Ich war echt froh, dass ich unter Aufsicht war. Ich weiss nicht, wie ich das erklären soll, aber in diesen Panikattacken schaltete mein Gehirn wahrscheinlich irgendwie aus und drehte verrückt. Ich hatte mein Zimmer im vierten Stock, einen grossen Balkon. In diesen Attacken war ich oft sehr nah dran durchzudrehen, aus dem Bett aufzustehen, zur Schiebetür zu laufen, sie zu öffnen, auf den Balkon zu treten und mich hinunter zu stürzen - völlig gefangen in meiner Trance. Ich weiss nicht, was in diesen Momenten in mir vorging, ich musste mich richtig am Bett festhalten, damit ich auf die Krankenschwester wartete.


Ankunft zu Hause nach sechs Wochen Klinikaufenthalt

Es war ein komisches Gefühl. Nun war ich wieder hier, und es war wirklich so: meine Mitmenschen dachten, ich sei wieder gesund. Aber ich war es noch nicht, das spürte ich ganz deutlich. Ich hatte jedoch nach wie vor einen grossen Willen. Er war so gross, dass ich sogar dachte, ich müsse mich äusserlich verändern, dann gehe es mir innerlich bestimmt auch wieder gut. So ging ich zum Coiffeur und liess meine Haare schneiden, ganz kurz. Bis anhin hatte ich immer sehr lange Haare gehabt. In dem Moment ging es mir gut dabei, obwohl mir fast alle sagten, die längeren Haare seien viel schöner gewesen. Aber ich dachte, es würde mir nun besser gehen. Wie sich später herausstellte, hatte ich mich da aber leider gewaltig getäuscht...

Eine Woche später konnte ich wieder zu 50% mit meiner Arbeit beginnen. Als ich ins Büro kam, herrschte eine eigenartige Stimmung. Alle schauten mich irritiert an, ich glaube sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Ich kam mir total einsam vor, allein und ausgeschlossen. Ich war vollkommen verunsichert. Dabei war ich doch 'normal'!

Es ging nicht lange, da verspürte ich erneut grosse Mühe in meinem Leben. Ich fiel wieder in ein totales Loch, fühlte mich ausgebrannt, freud-, energie- und lustlos, verzweifelt und schrecklich. Ich fand mich hässlich und total wertlos. Ich fühlte mich schwer, niedergeschlagen, unwohl, uralt, schwach und krank. Nirgends war mir wohl. Wenn ich draussen war, dachte ich, es wäre besser zu Hause zu sein und umgekehrt. Passivität, Angst und völlige Kraftlosigkeit bestimmten mein Leben. Mein Selbstwertgefühl und mein Selbstvertrauen waren vollkommen verschwunden.

Heute wage ich zu behaupten, dass zu diesem Zeitpunkt meine Depression erst richtig ausgebrochen ist.


Ausbruch der Depression

Ich ahnte damals noch nicht, was für einen schrecklichen Lebensabschnitt ich da durchstehen, welchen Weg ich noch gehen und welches Leid ich noch überstehen musste...

Es ging gar nichts mehr, der Teufelskreis begann...

Es fing bereits nachts an, ich konnte nicht schlafen. Es war der reinste Horror. Grosse Ängste und eine furchtbare innere Unruhe liessen mich hin und her wälzen, grübeln und grübeln. So ging es dann auch morgens weiter. Ich konnte nicht aufstehen. Ich war wach, aber ich schaffte es einfach nicht aus dem Bett zu kommen. Es war grausam. Ich lag da, wie gelähmt und doch in einer totalen Unruhe und wünschte mir den Tod herbei. Aber ich musste ja aufstehen und zur Arbeit gehen. Wenn ich es dann endlich geschafft hatte, ging der Tag so weiter. Ich stand vor meinem Kleiderschrank und wusste nicht was anzuziehen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Ich weiss, das tönt unglaublich, ja lächerlich, aber ich hatte überhaupt keine Entscheidungskraft mehr, nicht einmal bei den alltäglichsten Dingen. Wenn ich dann doch die Kleidungsstücke aus dem Schaft genommen hatte und anzog - ich musste ja - fühlte ich mich schrecklich unwohl, weil ich mich ja eh schon hässlich fand. Wieso sollte ich also schöne Kleider tragen?

Ich fuhr zur Arbeit, weinte immerzu, konnte mich nicht konzentrieren, fühlte mich immer gestresst und hatte schreckliche Schuldgefühle. Abends dachte ich immer: "Hoffentlich wache ich morgen nicht mehr auf", morgens nervte ich mich wieder, dass ich noch am Leben war. Und so ging das tagtäglich vor sich. Sehr oft war ich auch völlig blockiert. Wenn ich zum Beispiel den Haushalt machen, zur Post gehen oder sonstiges erledigen sollte, konnte ich es einfach nicht anpacken. Es ging nicht, es ging einfach nicht. Es kam sogar vor, dass ich nicht aus der Wohnungstür kam. Das tönt unwahrscheinlich, ja unglaublich, aber es ist Tatsache. Ich konnte die Tür nicht öffnen und hinausgehen, einfach furchtbar; es herrschte eine schreckliche unerklärliche Blockade und Versteinerung.

Zudem empfand ich mich als sehr grosse Belastung für meine Nächsten. Von den meisten Freunden und Bekannten hatte ich mich zurückgezogen. Meine Familie wollte mir helfen, sie war immer für mich da, aber sie war so hilflos. Ich hatte immer das Gefühl, ich sei die grösste Last für sie, da ich oft weinte, dann aber wiederum sehr aggressiv war und oft fast durchdrehte vor lauter psychischem Schmerz; und das musste sie mit ansehen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb es mir immer so schlecht ging. Die Geduld verliess mich, denn ich sah keine Besserung, kein Ende meines Zustandes. Die ständige Ungewissheit und die Befürchtung des ewigen Leidens machten mich seelisch kaputt.

Dazu kam, dass mir niemand nachfühlen konnte. Die meisten Mitarbeiter/innen und Freunde zeigten absolut kein Verständnis. Sie sagten mir immer, ich solle mich doch endlich zusammenreissen; wenn ich wolle, ginge das sicher wieder, ich solle mich doch nicht so anstellen! Sie hätten ja schliesslich auch manchmal Momente, in denen sie keine Lust zu etwas hätten, schlecht drauf und deprimiert seien.

Dies kann man meiner Meinung nach jedoch überhaupt nicht mit einer Depression gleichstellen, aber das konnten sie nicht verstehen. Sie stellten mich als schwache, wahnsinnig sensible Person, ja, als Mimose, als "Finöggeli" dar. Sie sagten mir auch, ich könne doch froh sein, ich hätte ja wirklich ein sehr gutes Leben, müsse sogar nur 50% arbeiten und hätte den Rest des Tages frei. Schöner ginge es doch wirklich nicht!

Das musste ich mir immer wieder anhören, beinahe jeden Tag. Wie gerne ich jedoch gesund gewesen wäre und 100% gearbeitet hätte, konnte sich niemand denken. Wie gerne hätte ich die Hölle der Depression gegen ein 'normales' Leben oder sogar gegen irgendeinen anderen Schmerz eingetauscht. Ich glaube, nur Menschen die eine Depression durchlitten haben, können sich vorstellen, wie weh solche Anschuldigungen und Worte tun. Vor allem führt das wiederum dazu, dass wir uns selbst noch mehr Schuldgefühle einreden, die wir ja eh schon haben. All die 'gutgemeinten' Ratschläge waren jedesmal giftige Stiche für mich - ich sollte sie nur befolgen, und dann würde es mir wieder besser gehen. Aber eben gerade das war ja unmöglich, und so bekam ich erneut Schuldgefühle, fühlte mich als Versager, eine Last für die Gesellschaft und nicht mehr lebenswert.

Nur mein Hausarzt und meine Psychologin verstanden mich zu der Zeit. Ich konnte zum Glück meine Psychologin behalten, welche ich bereits in der Klinik in M. hatte. Sie nahmen sich Zeit für mich und das Wichtigste, sie nahmen mich ernst. Aber sie sagten mir auch immer, ich müsse Geduld haben, dieser Prozess gehe sehr lange und vor allem müsse ich endlich akzeptieren, dass ich krank sei. Das war sehr schwierig für mich, ja, wohl das Schwierigste überhaupt. Was ist das für eine schreckliche, unsichtbare Krankheit? Wie lange geht das noch so weiter? Wann bin ich endlich wieder gesund? Durchhalten - wie lange kann ich das noch? Fragen über Fragen - die Antworten darauf fand ich nicht...

Ständig fühlte ich mich unter Druck von aussen. Wie kann ich diesem Unverständnis, diesem Druck standhalten??? - Anstatt dass die Mitmenschen versuchen, ja, ich meine wenigstens versuchen, einen an Depression Erkrankten zu verstehen, ihm zuzuhören, kleine Schritte mit ihm oder neben ihm zu gehen, machen sie uns noch mehr fertig. Und genau dieses unverständnisvolle Verhalten, diese schrecklichen Worte, Unterstellungen und unüberlegten oberflächlichen Ratschläge führen doch dazu, dass wir uns noch mehr in die Isolation, in unser Schneckenhaus zurückziehen.

So konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Ich merkte, dass ich von meinen Mitmenschen keine Hilfe erwarten konnte, und ich da selber irgendwie raus kommen musste. So begann ich mich intensiv mit dieser Krankheit zu befassen. Es gab keinen anderen Weg. Ich suchte nach allen möglichen Informationen und Büchern darüber, versuchte zu lesen, obwohl lesen plötzlich zu einer totalen Qual geworden war. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Dennoch zwang ich mich dazu. Ich wollte eine Selbsthilfegruppe aufsuchen, doch niemand konnte mir so richtig dabei helfen. Aber ich dachte mir, es müsse doch Menschen geben, denen es genauso geht wie mir. Es ist doch eine Krankheit und für jedes andere Leiden, auch physische und Suchtkrankheiten, gibt es heutzutage Selbsthilfegruppen. Nach langem Suchen entdeckte ich dann im Adressenverzeichnis zum grossen Glück die Angabe des Vereins Equilibrium in Zug, der sich mit der Krankheit Depression befasst und für Informationen zur Verfügung steht. So meldete ich mich dort und bekam ein Liste der bestehenden Gruppen in der Schweiz. Tatsächlich existierte eine Gruppe in meiner Nähe, welcher ich beitrat. Zu Beginn war es schon sehr schwer, hinzugehen und über mich selbst zu sprechen, aber ich merkte sogleich, dass hier wirklich Menschen waren, denen es gleich ging wie mir und die mich verstanden, vor denen ich mich ohne Scham öffnen und auch mal weinen konnte. Ich war so froh, endlich Gleichgesinnte gefunden zu haben.

Da ich gelesen hatte, dass die Depression uns mitteilen will, in unserem Leben etwas ändern zu müssen, fing ich an, mein Leben zu überdenken. Ich versuchte, einen ersten Schritt zu gehen, nahm alle Kraft die ich noch hatte, um in eine eigene Wohnung, von meinen Eltern wegzuziehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie es mir dabei ging. Auch hier wieder ein Teufelskreis. Ich fand eine sehr schöne Wohnung nahe am See, aber wie konnte es auch anders sein, als ich in der Wohnung war, ja, bereits beim Umziehen, gefiel sie mir schon gar nicht mehr. Ebenso erging es mir mit den Möbeln, die ich mit grosser Überwindung (einkaufen und das Aufhalten in Geschäften war für mich katastrophal) ausgesucht hatte. Gott sei Dank hat mich meine Familie dabei sehr unterstützt. Ohne ihre Hilfe hätte ich den ganzen Umzug niemals geschafft.

Die Zeit verging, aber mein Zustand wurde nicht besser, trotz all den Massnahmen, die ich bereits ergriffen hatte. Ich war zu schwach, und da sich immer noch kein Ende meines schrecklichen Befindens abzeichnete, sah ich immer noch keinen weiteren Sinn in meinem Leben. Mein Arzt meinte, ich solle mich mit einer neuen Psychiaterin in Verbindung setzen, vielleicht hätte sie einen anderen Therapie- und Medikamentenvorschlag. Doch oh je, hier fühlte ich mich gleich beim ersten Gespräch gar nicht wohl. Ich fand kein Vertrauen zu ihr und hätte mir eine Therapie mit ihr überhaupt nicht vorstellen können. Sie machte mir jedoch einen neuen Medikamentenvorschlag, den ich ausprobierte.

Ja, die lieben Medikamente. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon einige verschiedene Antidepressiva ausprobiert. Die einen bewirkten gar nichts, bei anderen litt ich unter schlimmen Nebenwirkungen und von einem habe ich sogar 20 Kilo zugenommen.

Geduld, Geduld, Geduld... Wie lange soll und kann ich denn noch durchhalten?

Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt, einfach nicht normal und hatte auch das Gefühl, es niemals mehr werden zu können. Ich zog mich total zurück, vermied jeglichen Kontakt mit meiner Umwelt. Jedes Treffen, jeder Telefonanruf war eine wahnsinnige Qual für mich. Ich versteckte mich richtig, mied die Menschen und war froh, nicht auf ihre Gespräche eingehen zu müssen. Ich ging nur noch zur Arbeit, zu meiner Mutter, zu den Arztgesprächen und in die Selbsthilfegruppe. Ansonsten verliess ich meine Wohnung nicht mehr. Meine Welt füllte sich mit der entsetzlichen Realität der Isolation.

Öffentliche Verkehrsmittel waren für mich auf einmal ein Tabu. Ich konnte nicht mehr im Tram oder Zug fahren, hatte Angst und das Gefühl, alle schauen mich an. Ich fühlte mich total bedrängt. Falls Autofahren nicht möglich war, ging ich zu Fuss, schaute auf den Boden, lebte für mich. Ich wich anderen Leuten aus, wo ich nur konnte. Es war wirklich schlimm, ich konnte auch nicht mehr einkaufen gehen. Die nötigsten Nahrungsmittel und Haushaltartikel bekam ich von meiner Mutter oder meiner Schwester.

Ich fühlte mich so schrecklich unwohl. Ich konnte mich nicht mehr ins normale Leben integrieren, war so anders als die anderen. Wenn ich mich mal zwang wegzugehen, ging es mir nur noch schlechter, denn dann wurde ich mit dem Leben der anderen konfrontiert und merkte, dass ich nicht mehr mithalten konnte. Fröhliche Gesichter, Lachen, aber auch die Natur und vor allem Sonnenschein, überhaupt alles Helle war der reinste Horror für mich. Ich konnte andere auch nicht feiern sehen, obwohl ich froh für sie war. Aber ich dachte immer: "Wieso kann ich das nicht? Diese Leute können mit ihren Problemen umgehen, nur ich kann das nicht." In solchen Momenten war meine Enttäuschung über mich selbst riesig, ich fühlte mich fremd, gefangen in mir selbst.

Ich lebte mit meinen Gedanken in der Vergangenheit, hatte das Gefühl, ich sei stehen geblieben. Ich sah überhaupt keine Zukunft vor mir, hatte keine Ziele mehr. Sehr oft hatte ich auch noch Panikattacken. Immer wieder musste ich laut zu mir sagen: "Nein, jetzt nicht, reiss Dich zusammen, Du musst durchhalten." Das brauchte unheimlich viel Kraft.

Wie oft hatte ich diese Selbstmordgedanken, und das waren für mich sehr schöne Gedanken. Es war für mich DIE LÖSUNG, endlich erlöst zu sein von diesem schrecklichen Leiden. So oft sehnte ich mich nach dem Tod, ging auch Risiken ein, denn es wäre mir egal gewesen, bei einem Unfall ums Leben zu kommen, ich wünschte es mir sogar. Das Ganze ging so weit, dass ich alles organisiert und geplant hatte, wie meine Beerdigung ablaufen sollte, wer meine Grabrede halten, und wem ich nach meinem Tod etwas hinterlassen würde. Ich schrieb alles auf und hinterliess für jeden mir nahestehenden Menschen ein paar ganz persönliche Abschiedszeilen. Die Gedanken an mein baldiges Lebensende verfolgten mich ständig.

Ich wollte so nicht mehr weiterleben. Wie oft dachte ich daran, alle Tabletten zu nehmen, meinem Leben ein Ende zu setzen, wie oft? Ja, wie oft war ich nahe daran, dies zu tun. Als meine Mutter dahinter kam, versteckte sie die Tabletten, damit sie für mich nicht mehr greifbar waren.

Wie es das Schicksal wollte, trennten sich meine Eltern im August 1997 von einander, was für mich auch ein grosser Einschnitt war.


Ein Jahr später...

Mai 1998. Keine Besserung in Sicht, im Gegenteil. Ich schaffte nichts mehr. Bei der Arbeit lag ein Berg vor mir, den ich abbauen wollte, es aber unter keinen Umständen schaffen konnte. Die Arbeit wuchs mir wortwörtlich über den Kopf. Wie gerne hätte ich mehr gearbeitet, so wie früher, aber es war schlichtweg unmöglich. Dazu kamen grosse Schuldgefühle, weil ich den Anforderungen nicht mehr gewachsen war.

Ich war völlig gelähmt, blockiert, fühlte mich wie in einer engen Zelle, die keine, aber auch nicht die geringste Öffnung hatte. Ein ganzes Jahr lang lebte ich bereits in dieser unbeschreiblich bedrückenden Isolation.


Zweiter Klinikaufenthalt

Erneut hiess es: Klinik! Da ich mich zu diesem Zeitpunkt immer noch vehement dagegen wehrte, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden, versuchten wir es noch einmal mit einem Aufenthalt in der Reha-Klinik in M. Am 12. Mai 1998 war es wieder soweit. Zum Glück kannte ich alles schon ein wenig, so hatte ich keine grossen Schwierigkeiten beim Einleben. Ich traf sogar Patienten, mit denen ich bereits im vergangenen Jahr zusammen war.

Der Aufenthalt im M. hat mir wieder sehr gut getan. Durch die Therapien, die neue Medikamenteneinstellung und den Abstand von zu Hause wurde meine Stimmung ein wenig besser, und ich fühlte mich beim Austritt am 16. Juni 1998 gestärkter und vitaler.

Endlich konnte ich auch wieder eine neue Partnerschaft eingehen. Wie es der Zufall - oder hier wohl besser gesagt - das Schicksal wollte, traf ich einen meiner Ex-Freunde wieder. Wir waren mal vier Jahre miteinander liiert gewesen, hatten uns in den vergangenen Jahren jedoch nicht mehr gesehen. Ja, und so kamen wir uns aufgrund eines zufälligen Treffens wieder näher. Aber auch hier merkte ich bald einmal, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich konnte es nicht verstehen. Da hatte ich doch wieder eine friedliche glückliche Partnerschaft und konnte sie nicht geniessen? Wie war das möglich? Heute weiss ich es. Der Grund hiess Depression. Das Schlimmste war, dass ich meinen Partner gar nicht richtig wahrnehmen und ihm fast keine Gefühle zeigen konnte. Er aber stand sehr zu mir und half mir, wo er nur konnte.

Überhaupt schränkte sich meine Gefühlswelt immer mehr ein, bestand nur noch aus einem schweren dunklen Klumpen Hoffnungslosigkeit. Die Gefühle meinen Mitmenschen gegenüber waren so furchtbar kalt, ja, auch oftmals sehr verletzend. Ich konnte mir selbst gegenüber auch keine Gefühle mehr zulassen, nicht einmal mehr weinen. Ich fühlte mich versteinert, beängstigend gefangen in meiner kleinen dunklen Welt.

Mein von der Klinik gestärkter Zustand hielt leider wieder nicht lange an. Hinzu kamen erneut die schlimmen Selbstmordgedanken. Sie hatten mich richtig beherrscht, ich konnte nicht mehr sein (egal wo), ohne an meinen Tod zu denken. Dauernd überlegte ich, auf welche Weise ich mich umbringen könnte. Diese Gedanken hatten ein unwahrscheinliches Gewicht angenommen und völlige Überhand, es war unmöglich für mich, sie zu steuern und in den Griff zu kriegen. Der einzige Grund, der mich von der Tat abhielt, war die Angst, dass es mir nicht gelingen könnte und dann...? Ja, dann wäre ich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden...


Dritter Klinikaufenthalt

Psychiatrische Klinik? Diesmal kam ich unter keinen Umständen darum herum. Mein Zustand mit der enormen Suizidgefahr konnte nicht mehr anders behandelt werden als in einer psychiatrischen Klinik. Es gab keinen anderen Ausweg. Sofort musste ich meine Sachen packen und am nächsten Tag eintreten. Mein Freund begleitete mich, ich war so froh, dass er bei mir war. Er hat mich moralisch sehr getragen und gestützt.

Hier ging es nun ganz anders zu und her als in der Reha-Klinik. Hier war ich in der geschlossenen Abteilung. Beim Eintritt wurden mir alle Gegenstände weggenommen, mit denen ich mir auf irgendeine Weise etwas hätte antun können. Die Abteilung und die Fenster waren geschlossen. Dies alles, wie man mir sagte, zu meinem Selbstschutz. Ich konnte nicht glauben, wo ich hier gelandet war. Wo ich hinschaute waren da Menschen, die herumschrien, sich gegenseitig fertig machten, auf den Ping-Pong-Tischen herumtanzten und hektisch im Gang herumliefen. Was machte ich bloss hier???

In der ersten Zeit bemerkte ich nicht sehr viel. Ich bekam viele neue Medikamente, war ziemlich damit "vollgepumpt", daher absolut "im Nebel" und nicht bei der Sache. Es war furchtbar. Glücklicherweise bekam ich eine Zimmergenossin, die auch eine Depression hatte. Aber wir waren auch die zwei einzigen. Alle anderen litten unter Alkohol- und Drogenproblemen, Schizophrenie oder anderen Geisteskrankheiten. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass ich mit ihnen im gleichen Raum sein musste. Sie schrien mich oft an, machten mich blöd und sehr verletzend vor allen andern an; einmal bekam ich sogar mit voller Wucht einen Ball an meinen Kopf geworfen. Oft wurde ich ausgelacht und fertig gemacht. Es war wirklich kaum erträglich. Ich möchte hier noch festhalten, dass ich überhaupt nichts gegen Drogen- und Alkoholabhängige oder geisteskranke Menschen habe, nein, im Gegenteil, ich weiss, dass da grosse Probleme und Frustrationen dahinter stecken und sie auf fremde Hilfe angewiesen sind. Aber ich bin der Meinung, dass Menschen mit Depressionen zur Heilung nicht in eine solche Umgebung gesteckt werden sollten. Wie konnten wir unter diesen Umständen gesund werden und einen Weg in das Umfeld draussen finden? Aber auch das werden wahrscheinlich nur Menschen verstehen, die selbst einmal eine Depression hatten...

Nun gut, mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt. Ich hatte dann auch meine Therapien und über die Ärzte und Betreuer konnte ich nicht klagen. Meine Zimmergenossin wurde schon bald in die offene Abteilung verlegt, ich hingegen musste noch in der geschlossenen bleiben; meine Suizidgefahr war immer noch zu gross. Meine Familie und mein Freund unterstützten mich während dieser Zeit sehr. Sie besuchten mich regelmässig. Ich erinnere mich noch genau daran, wie es immer beim Abschied war. Die Betreuer liessen meinen Freund bzw. meine Familie hinaus, ich durfte sie bis zur Tür begleiten; tack, die Tür fiel zu, Ritsch Ratsch, das Schloss wurde verriegelt. Wir konnten uns nur noch durch die Scheibe sehen und zuwinken - ein schreckliches, unbeschreibliches Gefühl, das sich niemand vorstellen kann. Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher.

Als ich eine Wirkung der Medikamente verspürte und mein Zustand besser wurde, durfte ich einmal am Tag eine halbe Stunde mit einem Betreuer spazieren gehen, später dann auch öfters. Aber das Ganze war ein grausames Leben für mich. Als ich mich an die Medikamente gewöhnt und wieder einen klaren Kopf hatte, begriff ich plötzlich, wo ich hier eigentlich war und was hier abläuft. Ich hielt es in dieser Klinik fast nicht mehr aus, sprach mit meinen Ärzten, aber sie konnten mich von ihrer Therapie weiterhin überzeugen. Sie rieten mir ab, sie jetzt einfach abzubrechen.

Da ich so "gedrängelt" hatte, durfte ich ein paar Tage später jedoch in die offene Abteilung wechseln. Zu Beginn fühlte ich mich dort noch einigermassen wohl, doch dann ging es plötzlich gar nicht mehr. Ich wollte nach Hause, nur nach Hause. Die Patienten waren zwar angenehmer, dafür sprachen aber die Betreuer fast kein Wort mit mir. Ich war einfach mir selbst überlassen. Wohl hatte ich einige Therapien, aber die Zeit verging nicht, Sekunden wurden zu Stunden, Stunden zu Tagen. Es war furchtbar. Ich sprach erneut mit meinen neuen Ärzten, aber auch sie wollten mich nicht nach Hause lassen. Doch ich hatte das Gefühl, nie mehr einen Weg nach draussen zu finden, wenn ich länger in dieser Klinik bleiben würde. Die Befürchtung, anschliessend ewig von Klinik zu Klinik verlegt und nie mehr gesund zu werden, war sehr gross. Alles was ich wollte war, wieder ein einigermassen normales, geregeltes, zufriedenes Leben führen. Die Selbstmordgedanken kamen wieder, aber nur, weil ich noch in dieser Klinik bleiben musste.

Es war ein grosses 'Theater', bis ich endlich doch meinen Heimweg antreten konnte. Ohne meinen Hausarzt, meine Eltern und meinen Freund hätte ich es nicht geschafft. Ich musste eine Bestätigung unterschreiben, dass ich die Klinik auf eigene Verantwortung verliess, im Falle eines doch noch eintretenden Selbstmordes.

Wie war ich froh, endlich wieder frei zu sein, mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen zu können. Zu Hause musste ich jedoch zu einem neuen Psychiater (sonst wäre ich gar nicht aus der Klinik gekommen) und dieser wollte mich direkt in eine Tagesklinik schicken. Er meinte es nur gut, wollte mir eine Struktur in den Tag geben. Aber ich hielt es nicht mehr aus. Der Gedanke, mich wieder in einer Klinik aufhalten zu müssen, zerriss mir das Herz. Mit Hilfe meiner Mutter und meines Hausarztes konnte ich einen erneuten Eintritt verhindern.

Ich begann wieder halbtags zu arbeiten. Das ging ungefähr zwei Wochen gut. Aber dann, ja dann fing alles wieder von vorne an. Mein Zustand verschlechterte sich wieder rasant und massiv. Meine Energie war erneut gleich null. Unglaublich aber wahr...


Arbeiten? Unmöglich geworden...

Meiner Arbeit konnte ich nur noch mit sehr grosser Mühe nachgehen. Ich schaffte das Ganze, ca. 150%, niemals in meinen 50%; ich musste mir eingestehen, dass diese Belastung für mich zu gross war, ich war total überfordert. Da gab es auf Raten meines Arztes nur noch eines: Diese Stelle aufgeben. Ich traute meinen Ohren nicht, als er mir diesen Rat gab. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber je mehr ich darüber nachdachte, musste ich doch zugeben, dass das wahrscheinlich wirklich das einzig Richtige war. So ging es echt nicht mehr, ich wäre sonst nie aus diesem Wirbel, aus diesem ewigen Stress, dieser völligen Überlastung und diesem schrecklichen Teufelskreis herausgekommen. Zusätzlich hielt ich die Bemerkungen meiner Mitarbeiterinnen kaum noch aus.

Beinahe acht Jahre war ich in diesem Betrieb tätig gewesen, und da ich mich so sehr eingesetzt und mit dieser Arbeit identifiziert hatte, fiel mir der Abschied unheimlich schwer. Ich konnte nur noch ein paar Tage arbeiten, dann musste ich sofort aufhören. Meine Ärzte waren der Meinung, dass es mir bald besser gehen sollte, wenn ich diesen Druck und Stress nicht mehr hätte.

Ja, man dachte es. Aber dem war bei weitem nicht so. Denn jetzt kamen andere Probleme auf mich zu: Wie soll es weitergehen? Wie sieht meine Zukunft aus? Wie kann ich mich und mein Leben überhaupt finanzieren? Wiederum Fragen über Fragen und keine Antworten. Eine enorme Angst machte sich in mir breit. Mein Denken wurde immer langsamer und schwerfälliger und begann sich nur noch um einen Punkt zu kreisen. Ich war überzeugt, unfähig zu sein und versagt zu haben. Ich fühlte mich schuldig für meine Vergangenheit, und dass alles soweit gekommen war.

Oft sass ich ganz eingekauert unter heftigem Zittern auf dem Küchenboden, innerlich laut schreiend und heulend vor lauter Schmerz und Verzweiflung; ein unbeschreiblich schlimmes Gefühl, das für Nicht-Betroffene nicht nachvollziehbar ist.

Ich hatte keine Struktur mehr im Tag, sah keinen Sinn und keine Zukunft mehr. Dennoch war ich gezwungen, verschiedene Abklärungen (Arbeitsamt, Invalidenversicherung, usw.) zu machen. Das brauchte unheimlich viel Kraft. Wie soll es bloss weitergehen? Kann ich überhaupt wieder einmal arbeiten, oder werde ich für immer und ewig ein Invaliditätsfall?

Jetzt brauchte ich dringendst verstärkte Therapien. Gott sei Dank hatte ich mit meinen Ärzten ein so gutes Verhältnis und grosses Vertrauen zu ihnen. Ohne sie wäre ich auf meinem Weg niemals weitergekommen.


"Es muss weitergehen...!"

"Es muss einfach irgendwie weitergehen! Wenn ich das geringste Anzeichen von noch vorhandenem Lebenswille verspüre und eine Prise Hoffnung vorhanden ist, muss ich weiterkämpfen". Und das tat ich...

Ich versuchte mehr hinauszugehen, zu Zeiten spazieren zu gehen, an denen kaum andere Menschen unterwegs waren; mein Partner, meine Schwester und meine Mutter zogen mich mit hinaus und unterstützten mich, wo sie nur konnten. Wir mussten einfach alles probieren, um aus diesem Sumpf wieder einen Weg zu finden. Wir nahmen uns nur ganz kleine Schritte vor, auch wenn ich pro Tag nur eine halbe Stunde an die frische Luft und in eine andere Umgebung kam, war das schon viel. Meine Schwester holte mich regelmässig zum Schwimmen ab; was für eine Qual für mich! Es konnte manchmal bis zu Stunden dauern, bis ich endlich aus meiner Wohnung kam. Manchmal ging's gar nicht.

Die Geduld meines Partners und meiner Familie war enorm und bewundernswert. Obwohl sie meinen Zustand nicht nachvollziehen und teilweise auch echt nicht verstehen konnten, gingen sie den Weg mit mir - und wenn das nicht möglich war - neben mir. Sie waren da, warteten, drängten mich nicht, doch gaben mir zu verstehen, wie wichtig diese Schritte für mich und meine Heilung sind. Sie zerrten mich nicht aus der Wohnung, sondern nahmen mich am Arm und führten mich nach draussen. Sie glauben nicht, was für eine Überwindung das jedesmal für mich brauchte! Wie konnte das denn nur so schwer sein? Das war's aber, und wie!

In Momenten, wo ich gar nicht aus dem Bett kam, also wirklich einfach nicht aufstehen konnte, obwohl ich hellwach war, kam mein Freund zu mir, hielt meine Hand, sprach mit mir, versuchte mir Mut zu machen. Wenn das auch nichts nützte, nahm er mich in seine Arme, hob mich aus dem Bett und setzte mich ins Wohnzimmer aufs Sofa oder in die Küche auf einen Stuhl. Horror für mich, doch heute bin ich überzeugt, schon nur die Lageveränderung, der Zimmerwechsel und das gemeinsame 'Sein' war ein erster Schritt und trug manchmal sogar dazu bei, dass wir die Wohnung noch verlassen konnten.

Wenn ich nicht unter die Leute gehen konnte, so setzten wir uns ins Auto, und er fuhr mit mir um den Thunersee. So blöd es tönt, aber ich kann heute mit Sicherheit sagen, dass schon nur das einfache Sein im Auto, Musik hören und die Natur ringsherum beigetragen hat, dass meine Stimmung ein wenig besser wurde. Es brauchte unheimlich grosses Verständnis von meinen Liebsten, was aufgrund der grossen Unsicherheit und Hilflosigkeit überhaupt nicht einfach war. Sie gaben sich die grösste Mühe und lobten mich jedesmal, wenn ich es geschafft hatte. Sie führten mir vor Augen, dass ich es geschafft hatte; und ich versuchte jeweils, mich selbst dafür zu loben. Sicher, das tönt für viele Menschen lächerlich, aber Selbst-Betroffene wissen, wie schwer auch der kleinste Schritt in einer Depression ist.

Ich setzte mich auch mehr in Kontakt mit den Menschen aus der Selbsthilfegruppe. Ich hatte zwar immer noch grosse Mühe jemanden anzurufen, aber sie wussten es und so riefen sich mich an. Das Reden mit Gleichgesinnten, welche schon einen Schritt weiter waren als ich, tat mir gut.

Ja, und so kam ich langsam, gaaaaanz langsam, wieder auf den ersten Zentimeter eines Weges. So schwer mir jede Handlung fiel, ich fing an zu begreifen, dass ich den Einstieg in ein 'gesundes' Umfeld nur schaffte, wenn ich mich überwinde, zwinge und sachte einen Schritt nach dem anderen tue.

Wenn ich jobmässig irgendwie und irgendwann wieder in eine Bahn kommen wollte, war ich gezwungen, mich anzustrengen und Mut zu fassen. Wieviel Kraft brauchte es und wie schwer war es für mich, Stelleninserate zu lesen, Bewerbungen zu schreiben, geschweige denn mich bei einem Vorstellungsgespräch zu präsentieren. Mit einem so schlechten Selbstwertgefühl fast unmöglich. Wie oft musste ich an Vorstellungsgesprächen anhören, dass eine Anstellung aufgrund meiner Verfassung nicht möglich sei. Niemand wollte jemanden anstellen, der infolge gesundheitlicher Probleme nur 50% arbeiten kann. Viele viele Schläge und Frustrationen musste ich hier immer wieder einstecken. Doch ich musste noch weiter versuchen, bevor ich vollends wieder aufgeben würde. Die Angst vor einem erneuten Eintritt in eine psychiatrische Klinik war zu gross.

Obwohl ich immer wieder auf Unverständnis (nicht nur jobmässig) gestossen bin, wusste ich plötzlich, dass ich nur weiterkomme, wenn ich zu meiner Krankheit stehe, mir selbst wie auch meinem Umfeld gegenüber. Es tönt paradox, aber gerade so abschmetternde, oberflächliche, verletzende Bemerkungen meiner Mitmenschen entwickelten in mir auf einmal eine Stärke, mich gerade extra und offen zu meiner Krankheit zu bekennen. Ich spürte eine so tiefe innere Wut in mir, welche mir die Kraft dazu gab.

Menschen mit einem körperlichen Leiden stehen ja schliesslich auch dazu und erzählen es, nur hier wird es eben vom Umfeld gesehen, angehört und mitfühlend ernstgenommen. Aber es konnte doch nicht angehen, dass wir als Depressive nicht gleich behandelt werden! Wir sind weder dumm noch geistig gestört (und wenn das noch so wäre!!!) noch Simulanten. Wir sind, wie jeder andere Mensch auf dieser Erde auch, ernstzunehmende Menschen mit Gefühl, Herz und Verstand. Man kann uns doch nicht einfach in eine Schublade verbannen. Mensch ist Mensch und jeder Mensch hat das Recht in unserer Gesellschaft aufgenommen, ernstgenommen und akzeptiert zu werden. Jeder hat das Recht auf seinen Platz in dieser Welt!

Erstes positives Zeichen für mich... Ich verspürte Wut und Enttäuschung. Wow! Ich spürte Wut und Enttäuschung? Ich spürte etwas! Ein Gefühl! Was für ein Gefühl! Jahrelang war ich nicht mehr fähig gewesen, ein Gefühl wahrzunehmen, meine Versteinerung war mir ins Gesicht geschrieben - und jetzt? Ich konnte es kaum glauben! Na, das war doch immerhin ein erster Schritt - ich bemerkte ein Gefühl in mir und konnte es auch noch zulassen? Das konnte ja nur ein gewaltiger Fortschritt in meiner Geschichte sein...

So begann ich, mein Schicksal zu akzeptieren, mich selbst wieder anzunehmen und Schritt für Schritt, so klein er auch war, zu gehen. Ich versuchte herauszufinden, was mir gut tun würde; das ist in der Depression unmöglich, aber ich wusste, ich musste es versuchen. Nur so kam ich vorwärts. Dazu musste ich es aber auch ausprobieren. Wenn ich es nicht schaffte, selbst etwas zu tun oder zu unternehmen, musste mir mein Gegenüber einen Vorschlag machen und die Entscheidung abnehmen. Ich hatte immer noch zu nichts Lust und an nichts Interesse, aber wenn ich nur daheim sass und nichts probierte, wie sollte ich da jemals wieder Lust, Freude und Interesse an etwas finden? Ich wusste ja gar nicht mehr, wie man was im Leben spüren und erleben kann. Wenn ich mich weiterhin isolierte und davor drückte, würde ich es niemals mehr herausfinden.

Ich spreche hier von kleinen, wirklich winzigen Schritten. Das war bei mir zum Beispiel schon nur eine Tasse Kaffee trinken, tönt lächerlich, aber es ist so. Mir die Zeit nehmen, mir bewusst eine Tasse Kaffe zu kochen, diese bewusst langsam zu trinken und diesen Moment bewusst wahrzunehmen. Was spüre ich dabei? Wo schaue ich hin? Sitze ich auf dem Balkon - kann ich die Sonne, die Natur und die Menschen um mich erkennen? Die Vöglein oder die Musik im Hintergrund hören? Ist es mir wohl dabei? Ja, denn ich tue das für mich, nur für mich! Diesen Moment erlebe nur ich so, niemand anders kann ihn mir nehmen oder hat Einfluss darauf, es ist für mein Wohl!

Das ist ein Beispiel unter vielen; ich habe versucht, diese kleinen Schritte zu gehen und, was mir als sehr wichtig erscheint, bewusst zu gehen. Ich weiss, das ist sehr schwer, aber nur so kam ich weiter. Zu Beginn sprach ich sogar laut mit mir selbst, dass es mir wirklich bewusst wurde, was ich tat und dabei empfand. Diese Gefühle waren nicht immer nur positiv, oh nein, ganz und gar nicht. Aber auch das gehörte meiner Meinung nach zu meiner Therapie, denn wenn ich nicht auch bewusst negative Gefühle verspürte, wie sollte ich dann herausfinden, was gut für mich ist und was nicht? Im Gegenteil, es war ein unglaublich schönes Gefühl, überhaupt wieder Gedanken und Gefühle wahrnehmen und zulassen zu können. Ob gut oder schlecht, einfach wieder die Fähigkeit zu haben, um zu erkennen: Ich spüre etwas, in mir tut sich etwas, ich habe ja eine innere Stimme, die mich lenkt und zu mir spricht.

Das tönt jetzt hier vielleicht so einfach und schnell vollzogen... nein, so war es natürlich nicht, es war ein fast unendlich langer Weg, bis ich überhaupt zu dieser Erkenntnis geschweige denn zum Umsetzen meiner Gedanken und Gefühle gekommen bin.

Auf diese Weise schaffte ich langsam den Wiedereinstieg in die Gesellschaft. Da ich mich selbst wieder ein wenig annehmen konnte, versuchte ich auch wieder mir äusserlich Mühe zu geben, mich 'schön' zu machen. Die meisten Dinge konnte ich jedoch nicht ohne Hilfe tun. Zum Beispiel unter Leute, essen oder in Geschäfte einkaufen zu gehen (in diesem Zusammenhang Kleider), war für mich alleine unmöglich. Meine Angst- und Panikzustände waren zu gross. Aber auch hier musste ich lernen zu akzeptieren, dass es halt alleine nicht geht. Früher wäre es eine Katastrophe für mich gewesen, mir das eingestehen zu müssen, aber plötzlich fragte ich mich: "Was ist denn eigentlich dabei? Ist doch kein Problem, so kommt halt jemand mit, der mich versteht und mir die nötige Sicherheit gibt." Klar ist das nicht befriedigend, aber wie sollte ich meinen Weg anders schaffen?

Es gab ganze zwei Möglichkeiten, die mir vollkommen bewusst waren: Entweder ich akzeptiere mich, meine Einschränkungen und mein Angewiesensein auf fremde Hilfe, oder ich ziehe mich wieder zurück in mein Schneckenhaus, wo ich schliesslich wieder vollkommen isoliert in meinem eigenen Sumpf ersticke...!

Es hatte einige Monate gedauert, aber dennoch fand ich eine neue Arbeitsstelle als kaufmännische Mitarbeiterin in einem Sozialamt, was früher schon immer mal ein Wunsch von mir war. Grosse Freude konnte ich nicht spüren, aber immerhin: ich war so froh, dass ich wieder eine Arbeitsstelle und Aufgabe hatte. Ich hatte ziemliche Angst davor. Konnte ich mich wieder integrieren, konnte ich die Anforderungen erfüllen? Ein sehr beängstigendes Gefühl, das in mir grosse Zweifel auslöste. Aber auch hier galt für mich: Versuche ich's nicht, werde ich's niemals wissen. Versuche ich's nicht, werde ich zurückfallen, und alles geht von vorne los und - auch wenn ich dann wieder gekämpft hätte und wieder am gleichen Punkt angelangt wäre - die Angst vor dem Wiedereinstieg wäre jedesmal da gewesen; ich behaupte sogar grösser geworden, was es mir schliesslich unmöglich gemacht hätte.

Ich hatte tatsächlich Mühe, mich an der neuen Stelle einzuleben, auf dem Arbeitsplatz und im privaten Bereich mit meiner Depression umzugehen. Eine riesige Unsicherheit war ständig in mir, und machte ich tatsächlich einmal etwas falsch, führte ich das immer gleich auf meine Depression zurück. Ich musste so aufpassen, dass ich nicht wieder in die Versager- und Nichtsnutz-Rolle verfalle, was mich automatisch wieder in die Opferrolle geführt hätte.

Die Integration in die Arbeitswelt und die Gesellschaft war schwer, sehr schwer. Ich fühlte mich an meiner neuen Stelle auch nicht genügend ausgelastet, war im Vergleich zu meiner früheren Stelle als Geschäftsführerin ziemlich unterfordert. So fühlte ich mich nicht gefordert, demzufolge zu wenig gebraucht und die Arbeitszeit ging nur mühsam und langsam vorbei, was für mich in meiner Verfassung gar nicht gut war. Die Zeit und Unsicherheit liessen mich wieder viel zu viel grübeln. Nach mehreren schlaflosen Nächten und dank der Entscheidungshilfe meines Partners entschloss ich mich, die Stelle zu kündigen. Ich hatte einen anderen Job in Aussicht, der mich mehr gefordert hätte, aber daraus wurde leider auch nichts: extreme Angstgefühle und Panikzustände machten mir einen Stellenantritt leider unmöglich.

Erneute zum Teil schwere Zusammenbrüche, erneute Arbeitslosigkeit, erneute enorme Zukunftsängste. Wieder Mut fassen, wieder Kraft und Überwindung schöpfen, nicht aufgeben sondern weitergehen und weiter hoffen... Schwere Monate des Kampfes vergingen, bis ich wieder eine neue Arbeitsstelle gefunden hatte. Aber wissen Sie was? Es hat sich gelohnt! Seit März 2000 arbeite ich nun schon im gleichen Betrieb, im administrativen Bereich (meistens Schalterdienst) eines Krankenhauses, wo ich mich wohlfühle.


Heute

Es ist bereits fast dunkel geworden, und ich sitze immer noch hier an meinem Plätzli am See. Es ist ganz ruhig, die Lichter auf der anderen Seeseite sind schon zu sehen. Ja, das ist der Rückblick auf meine schwere vergangene Zeit mit dieser schrecklichen Krankheit. Wenn ich so zurückdenke, und das alles noch einmal in meinen Gedanken erlebe, ist es sehr schwer zu glauben, dass ich das wirklich alles durchgestanden habe.

Wie geht es mir heute? Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach zu finden...

Im Vergleich zu meiner schlimmsten Zeit der Depression geht es mir viel besser. Vergleiche ich aber mit einem gesunden, zufriedenen Menschen, geht es mir nur bedingt gut. In meiner ganzen Zeit dieser unheimlichen Verzweiflung habe ich einen riesigen Prozess durchgemacht, der mich sehr geprägt hat. Als mir damals ein Arzt gesagt hatte, ich könne irgendwann aus dieser Misere einmal etwas Positives ziehen, habe ich vor lauter Unverständnis nur den Kopf geschüttelt. Heute kann ich nur bestätigen, dass er recht hatte.

Kaum hatte ich mein Leben mit der Depression so einigermassen im Griff, spielte es erneut verrückt. Im letzten Jahr hatte ich einen körperlichen Einbruch nach dem anderen. Es war eine Kette unglaublicher Ereignisse, womit ich selber sehr Mühe hatte, sie anzunehmen und zu verstehen. Angefangen hat es mit immer wiederkehrenden schweren Anginaschüben mit schliesslichem Zusammenbruch, Operation und längerem Spitalaufenthalt. Von der Operation sehr geschwächt und wiederum in verstärkter depressiver Stimmung, kämpfte ich während ein paar Monaten mit ziemlichen Essstörungen. Mit Hilfe meines Psychiaters habe ich herausgefunden, dass ich mich innerlich unbewusst zerstören wollte infolge meiner schlechten physischen und psychischen Verfassung.

Noch nicht ganz erholt, kam schon der nächste Schlag. Autounfall im September vergangenen Jahres, unverschuldet. Diagnose: Distorsion der Halswirbelsäule, Schleudertrauma. Mit den Unfallfolgen habe ich bis heute sehr schwer zu kämpfen. Ständige, oft unerträgliche Schmerzen machen mir mein Leben sehr schwer und wirken sich natürlich auch negativ auf meine psychische Verfassung aus.

Weiter ging's über Monate mit heftigen Unterleibsbeschwerden, Operation im Juni 2002. Seit einiger Zeit schlage ich mich mit starken Magenschmerzen durch. Ergebnisse aus Magen- und Darmspiegelung haben ergeben, dass die starken Schmerzmedikamente, welche ich über längere Zeit eingenommen hatte, meinen Zwölffingerdarm angegriffen und verwundet haben.

Wenn ich das hier so aufzähle, kann ich es selbst fast nicht glauben. Es ist mir auch sehr unangenehm, diese Tatsachen jemandem zu erzählen, da es für Aussenstehende wohl noch unglaubwürdiger scheint als für mich selbst. Ich kann mir nicht erklären, weshalb es zu solchen immer wiederkehrenden Schicksalsschlägen kommt. Die Frage "warum" stelle ich mir aber schon gar nicht mehr, vielmehr versuche ich es anzunehmen und mit meinen ständigen Schmerzen umgehen zu lernen.

Und hier komme ich zurück auf die Aussage meines Arztes. Tatsächlich! Hätte ich in meinem Leben nie eine Depression gehabt, wäre ich jetzt durch alle diese körperlichen Einbrüche, den Schwächezustand und diese furchtbaren Schmerzen in eine sehr schwere Depression gefallen. Ich hätte das niemals alles verkraften und annehmen können. Schon so hatte ich grosse Mühe und fühlte mich wie ein ewiges 'Stehaufmännchen'. Zutiefst betrübt im Untergrund versuchte ich immer wieder aufzustehen, nicht aufzugeben sondern weiterzumachen.

Im März dieses Jahres war ich sogar erneut in der Reha-Klinik in M., zum allgemeinen Wiederaufbau und zur Bekämpfung der Unfallfolgen. Was ich hier erleben musste, hat mich jedoch zutiefst enttäuscht und erschüttert, aber das Bild unserer Mitmenschen im Umgang mit Depressiven oder ehemals Depressiven leider bestätigt. Diesmal war ich zur Behandlung des Schleudertraumas und zum Erlernen der Schmerzverarbeitung in der Klinik. Die Behandlung wurde jedoch anhand der Berichte von meinen letzten Aufenthalten durchgeführt. Obwohl ich zur Schmerzbewältigung dort war (logischerweise hatte ich dementsprechende depressive Verstimmungen), stand meine Depression völlig im Vordergrund, und so wurde ich also wieder in das Bild der schwer Depressiven gesteckt, nicht ernstgenommen und als "Mensch in der ewigen Opferrolle" abgestempelt. Unglaublich aber wahr! Ein furchtbares Erlebnis, mühsame sehr anstrengende Gespräche mit Ärzten, die meine Besserung nicht förderten.

Obwohl ich unheimlich Mühe damit hatte und auch über längere Zeit von Alpträumen geplagt war, konnte ich mich wieder auffangen und mit Hilfe meiner Stamm-Ärzte meinen Alltag in die Bahnen lenken. So habe ich auch gemerkt, dass ich wirklich aus meiner damaligen schweren Zeit der Depression vieles gelernt habe, ja, viel stärker geworden bin. Ich habe im letzten Jahr nicht aufgegeben, obwohl ich so oft so nah dran war, aber ich habe durchgehalten, eine Diagnose nach der anderen 'geschluckt', so schwer es war.

Ich muss eingestehen, ich bin heute von meinen Depressionen nicht geheilt. Hauptursache jetzt sind jedoch, soweit ich das beurteilen kann, meine ständigen starken Schleudertrauma-Schmerzen. Es ist für mich immer wieder enttäuschend zu merken, dass ich diese depressiven Einbrüche noch habe. Doch was bleibt mir anderes übrig, als mich damit abzufinden?

Das Durchhalten und der Umgang mit meiner gesundheitlichen Situation ist oft schwer und gelingt mir auch nicht immer so, wie ich es mir wünsche. Ich muss zugeben, es ist wirklich ein ewiger Kampf. Aber ich will weiterkämpfen, meinen Weg weitergehen. Ich hoffe immer noch auf eine Besserung beziehungsweise vollständige Heilung, oder dass ich mich zumindest auf mich selbst verlassen kann, sehr gut mit meinen depressiven Phasen und Schmerzen umgehen zu können.

Mein oberstes und wichtigstes Ziel ist nach wie vor, meiner Arbeit zu 50% nachgehen zu können, was zur Zeit immer noch oft nur mit starken Schmerzmitteln möglich ist. Aber meine Arbeit gefällt mir gut. Sie ist zwar sehr anstrengend und herausfordernd, doch - so schwer es mir in meiner gesundheitlichen Situation auch fällt - es tut mir bestimmt gut, eine solche Aufgabe zu haben. Trotz meinen depressiven Verstimmungen bin ich quasi gezwungen unter die Leute zu gehen, zu lächeln, mich zu konzentrieren und meine Aufgabe zu aller Zufriedenheit auszuführen. Ich fühle mich bei meiner Arbeit wohl, denn der Mensch und seine Gefühle stehen hier im Vordergrund. Ich schätze den Umgang mit den Patienten sehr und kann mich daher auch voll für sie und meine Aufgabe einsetzen. Es ist auch wunderschön und tut gut, von ihnen ein Lächeln zu erhalten oder einfach ein beglückendes "Dankeschön". Das gibt auch mir wieder Kraft und Mut sowie das Gefühl, gebraucht zu werden und fähig zu sein, meine Arbeit gut auszuführen. Eigentlich sehr schön, denn es ist ein Geben und Nehmen.

Klar leiden meine Freizeit und Ferien sehr darunter, da ich nach der Arbeit mehr als erschöpft und zu nichts mehr fähig sowie an meinen freien Tagen demzufolge geschwächt und antriebslos bin. Zudem muss ich an diesen Tagen meinen Therapien zur Bekämpfung meines Schleudertraumas nachgehen. Aber ich bin echt froh, dass ich mein Arbeitspensum in der Regel einhalten kann und muss halt einfach akzeptieren, dass meine Belastbarkeit und Lebensqualität sehr eingeschränkt sind, und es in meinem Leben immer wieder Momente gibt, wo gar nichts mehr geht.

Ich darf mir noch heute nicht zu grosse Ziele vornehmen, denn das Problem des Enttäuschtseins ist nach wie vor da. Ich kann mir heute sagen, "oh, morgen hab ich frei, da mach ich das und das" und dann kommt "morgen" und ich merke plötzlich, dass gar nichts mehr geht. Dann verspüre ich erneut das Gefühl des Blockiertseins und der völligen Leere, was mich dann zutiefst in eine Enttäuschung fallen lässt und mir wiederum das Gefühl des Versagens und meiner Unfähigkeit gibt. Daher musste ich lernen, möglichst nicht gross und vor allem weit voraus zu planen, da mich das in einen unheimlichen Druck zwängt und ich dann, was zum Beispiel meine Bekannten betrifft, womöglich wieder alle Treffen absage. Ich brauche noch heute Menschen um mich, die mich manchmal spontan aus meinem Sein und Denken herausholen und mir den Vorschlag des 'Was, Wo und Wohin' abnehmen.

Trotz allem kann ich heute ganz klar sagen, dass ich sehr viel aus meiner Zeit in der tiefsten Depression gelernt habe. Zu Beginn waren es nur kurze Momente, in denen ich mich wieder lebenswert fand. Im Laufe der Zeit haben sich diese Momente verlängert, wurden zu Stunden, ja heute sind es sogar ganze Tage, an welchen mir das Leben nicht nur als Ballast und schreckliche Qual erscheint.

Und ich kann Ihnen sagen, es gibt sie heute wieder in meinem Leben: Die Momente des Glücklichfühlens, der bewussten Wahrnehmung positiver Einflüsse und Erlebnisse. Sie sind viel seltener und auch weniger aktiv als früher, aber sie sind möglich und durchführbar. Ein zufriedener Spaziergang mit meinem besten Freund und seinem Hund, ein gemütliches Zusammensein, ein warmer Kaffee auf meinem Balkon oder in der heimeligen Stube, einen Film schauen oder in einem Buch schmökern - kleine, ganz einfache Dinge. Ich habe gemerkt, dass ich alles viel intensiver wahrnehmen kann als früher; das ist ein sehr schönes Gefühl.

Ich kann heute sogar wieder herzhaft lachen, sehe Farben, die Natur und ich kann anderen Menschen wieder Gefühle entgegenbringen. Ich glaube, das alles ist bereits ein gewaltiger Fortschritt, den ich immer wieder bewusst wahrnehmen muss und sehr schätze.

Was ich vor allem gelernt habe ist, mehr auf mich selbst zu achten und auch mir mal etwas Gutes zu tun. Ich muss immer wieder zu mir finden und herausfinden, welche Bedürfnisse ICH habe, und mir diese auch wenn möglich zu erfüllen. Dies ist ein sehr langer Lernprozess und ehrlich gesagt, stecke ich da immer noch mitten drin, zumal ich vom Schleudertrauma her doch sehr eingeschränkt bin und mein Leben neu orientieren muss. Mein Leben lang habe ich nur immer gearbeitet, im totalen Stress und immer nur für andere gelebt; jetzt muss ich lernen, dass auch und vor allem MEIN Leben zählt. Ich bin nicht auf einmal vom Egoismus eingenommen, ganz und gar nicht, aber ich muss mich in diesem Bereich wirklich 'an der Nase nehmen', um nicht wieder in das alte Fahrwasser zu fallen.

Den wichtigsten Schritt am Ganzen habe ich bereits gelernt. Ich stehe heute voll und ganz zu meiner Vergangenheit und zu meinem Ist-Zustand; vor meiner Familie, vor Bekannten, Freunden und Mitarbeiter/innen. Ich schäme mich nicht mehr, nein, wirklich nicht. Auch wenn ich neue Freunde kennenlerne, verstecke ich mein ICH nicht mehr. Das ist meine wahre Geschichte und diese ist ein grosser Teil meines Lebens geworden. Lügen tut mir weh und verstecken hat nur üble Folgen.

Heute kann ich ganz offen zu meinen Mitmenschen sagen: "Ich fühle mich nicht gut" oder "Zur Zeit bin ich schlichtweg überfordert, das schaff ich nicht und wird mir zuviel". Oft werde ich zwar mit offenem Mund sprachlos angeschaut, weil ich das so offen zugebe, aber ich kann dazu stehen und bezeichne das auch nicht als Schwäche.

Mein Freundeskreis hat sich sehr verändert. So hart es auch ist, ich musste mich von vielen Menschen lösen, die mir einmal viel bedeutet hatten. Meine Depression sowie das oft so grosse Unverständnis meiner Kolleginnen hat einige Freundschaften zerstört. Während meiner Depression sind sehr wertvolle Menschen in mein Leben getreten, mit denen ich über längere Zeit Kontakt hatte. Doch das wurde mir schliesslich zuviel, ich brauchte zwischendurch auch einfach Zeit für mich, für mich alleine. Ich musste mich auch aus dem Kreise des ewigen Themas 'Depression' lösen, denn je mehr ich mich darin bewegte, umso schwieriger war der Einstieg wieder in eine 'gesunde' Realität. Ich wollte das auch nie glauben und dachte, meine zukünftigen Freunde seien nur noch Selbst-Betroffene. Meinungen und Ratschläge meiner Liebsten überzeugten mich jedoch, dass ich mich auch wieder mal in einem anderen, neuen Umfeld bewegen muss. Ich musste aufhören immer wieder über Depressionen zu reden, zu hören, zu lesen und anderen helfen zu wollen. Das würde ich natürlich nach wie vor gerne tun, nur da ich diesbezüglich aufgrund meiner früheren Lebensweise sehr gefährdet bin, muss ich mich hier abgrenzen. Das ist für meinen Heilungsprozess sehr gefährlich.

Meine Freunde kann ich heute an einer Hand abzählen. Bei ihnen kann ich aber sein wie ich bin und mich wohl fühlen. Wir können über alles miteinander reden, Probleme wälzen und weinen, aber einander auch Witziges und Erfreutes erzählen und aus vollem Halse lachen. Die Depression und meine Schmerzen sind kein ständiges Thema, doch ist es für mich beruhigend zu wissen, dass ich mich im Falle eines Rückschlags verstanden fühlen kann. Die Gefahr, ein Treffen kurz vorher wieder abzusagen, ist daher viel geringer für mich.

Was meine partnerschaftliche Beziehung anbelangt, so habe ich mich gerade erst vor zwei Monaten von meinem Freund getrennt. Wir hatten eine sehr schöne, sehr intensive Zeit, eine enge tiefe Beziehung miteinander, vor allem gerade durch den Umgang und das Erleben meiner Depression. Mein Ex-Freund ist immer zu mir gestanden, wirklich, Hut ab. Ich wage zu behaupten, dass es wenige Partner gibt, die in einem solchen Ausmass zu einem stehen und den Lernprozess "wie verhalte ich mich gegenüber und mit einer depressiven Partnerin" mit einem gehen. Er spürte genau, wie es mir ging und versuchte sich dementsprechend zu verhalten, sei es mich in Ruhe zu lassen oder spontan "aus dem Bett zu reissen".

Trotz allem musste ich diese Beziehung beenden. Ich war mir meinen Gefühlen ihm gegenüber nicht mehr im Klaren und nicht mehr sicher, ob ich meine Zukunft mit ihm verbringen möchte. Woran das liegt, weiss ich noch nicht genau. Vielleicht war ich mit meinen ganzen körperlichen Einbrüchen im letzten Jahr und meiner dementsprechenden psychischen Verfassung einfach total überfordert mit mir selbst. Ich gebe das auch offen und ehrlich zu. Es war mir zu viel und plötzlich fühlte ich mich in einer unwahrscheinlichen Enge, die mich innerlich fast ersticken liess.

Ich brauche Luft, Luft zum atmen, Luft um wieder zu mir zu finden, zu spüren und herauszufinden, welchen Weg ich eigentlich gehen möchte, und wie ich mir meine Zukunft wünsche.

Mit meinem Ex-Freund habe ich heute noch guten Kontakt. Er spürt mich noch immer und ist für mich da, wenn ich ihn brauche. Manchmal unternehmen wir sogar noch etwas miteinander oder gehen mal gemütlich essen. Ich bin sehr froh, dass wir noch so ein gutes Verhältnis zu einander haben können.

Die Frage, ob mich ein anderer Partner im Falle eines heftigen Rückschlags ebenso wahrnehmen und unterstützen kann, stellt sich natürlich, aber sie beunruhigt mich nicht. Viele depressive Menschen zweifeln daran. Aber ich bin überzeugt und die Erfahrung zeigt mir, dass es diese Menschen gibt, wenn auch nur selten und wahrscheinlich nicht vergleichbar mit meinem Ex-Freund. Er hat aber ja auch quasi von Beginn an den ganzen Leidensweg miterlebt und ist den Weg mit all seinen Umwegen mit mir gegangen, was ein grosser Erfahrungsprozess war.

Vergleiche stelle ich sowieso gar nicht gerne an, sondern nehme vielmehr jeden Menschen, der mir in meinem Leben begegnet, als sein eigenes Individuum wahr mit seinen eigenen Stärken und Schwächen. Ich finde es sehr interessant, neue Seiten im Leben und vielleicht dadurch auch an mir selbst zu entdecken. Es ist auch sehr schön zu spüren, dass mich meine Mitmenschen gerade so schätzen, weil ich so bin, wie ich durch meine Depression geworden bin: ein ganz anderer Mensch. Das Wort 'Problem' nehme ich höchst selten in den Mund und wenn, dann handelt es sich wirklich um ein echtes grosses Problem. Ich rege mich nicht über Kleinigkeiten auf oder raste wegen irgendwelchen negativen oder schwierigen Situationen gleich aus. Ich bin ein eher gelassener, unkomplizierter, offener und spontaner Mensch geworden. Ich habe riesige Freude an ganz kleinen Dingen oder Geschehnissen, was mich sogar vor Glück zu Tränen rühren kann. Ich liebe es, herzhaft zu lachen und zeige heute gerne, wenn ich glücklich bin und mich in einem Kreise wohlfühle.

Für mich ist kein Thema und keine Realität ein Tabu. Ich kann meinen Mitmenschen bei ihrer Sorgenbewältigung helfen, ihre Probleme in ein anderes, lebensnahes Licht zu rücken. Oft kann ich sie sogar aufheitern und zum Lachen bringen. Ich kann ihnen durch meine Erfahrungen Mut machen und zeigen, dass es okay ist, nicht immer nach der 'Norm' in einer vorgegebenen Schiene zu leben. Eine Lebensweise kann sich manchmal infolge eintreffender Gegebenheiten schlagartig ändern. Um damit umgehen zu können ist es wichtig, sein eigenes Leben leben und verantworten zu können. Ein Leben in der Gesellschaft - aber nicht zwingend immer genau mit der Gesellschaft...


Schlusswort

Heute weiss ich nicht mehr, wie ich diesen Zustand über so lange Zeit aushalten konnte, bin aber unendlich froh durchgehalten zu haben. An dieser Stelle möchte ich meinen ganz herzlichen Dank aussprechen an alle Menschen, die mir in dieser schweren Zeit beigestanden sind und mir Mut gemacht haben. Ein ganz grosser herzlicher Dank geht hier vor allem an meinen Partner, meine Mutter, meine Schwester, meinen Vater und meine Grosseltern. Sie alle hatten es sehr schwer mit mir, sind aber immer zu mir gestanden und haben mich mit grosser Geduld getragen. Sie haben immer an mich und die Besserung meines Zustandes geglaubt.

Ebenso danken möchte ich an dieser Stelle nochmals meinem Hausarzt Dr. D.H., der mir von Beginn an mit seinen Worten und seinen Ratschlägen viel geholfen und mir immer wieder Mut gemacht und an mich geglaubt hat. Dasselbe gilt für meinen Psychiater Dr. B. M., der mich ebenfalls durch die schwere Zeit mit viel Gefühl und Verständnis getragen hat und heute immer noch eine sehr wertvolle wichtige Stütze für mich ist.

Meine Psychologin Th. J. hat mir in den ersten zwei schweren Jahren beigestanden und meine Ergo- und Atemtherapeutin M. A. hat mir gezeigt, wie ich innerlich zur Ruhe kommen kann und mir beigebracht, dass im Leben auch die Freizeit zählt, und wie ich diese gestalten kann.

Einen wichtigen Halt finde ich zur Zeit auch bei meinem Arzt Dr. Th. R., der mir bezüglich Schleudertrauma Mut und Hoffnung macht und gemeinsam mit mir eine Besserung anstrebt.

Ihnen allen ein ganz grosses "DANKESCHÖN"! Ohne all ihre Hilfe wäre ich niemals an dem Punkt, an welchem ich heute bin.

Wer eine Depression durchlebt und überlebt hat, ist meiner Meinung nach ein überaus starker Mensch. Es braucht unglaublich viel Kraft und Überwindung, aus diesem schrecklichen, dunklen und unheimlichen Loch zu finden. Doch wie schön ist es, plötzlich wieder die Sonne oder zumindest einen Sonnenstrahl zu sehen.

Es ist tatsächlich so: Um neues Leben hervorzubringen, muss es einen Tod geben. Es muss eine Zeit der Ruhe, der Rekapitulation und der neuen Pläne geben. Wenn wir unsere Tiefen nicht hätten, würden wir unsere Höhen niemals zu schätzen wissen.


Denken Sie immer daran: Halten Sie durch, so schwer es auch ist. Andere haben den Aufstieg auch geschafft, es ist möglich!

Geben Sie nicht auf!
Ich wünsche Ihnen Mut und viel viel Ausdauer, Geduld und Kraft. Und - dass Sie einen Menschen finden, der auf Sie zukommt und Sie auf dem steilen, hartnäckigen und schwierigen Weg begleitet.

Ihre Eveline H.

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