Angehörige

Den Alltag mit depressiven Menschen teilen

Heidi Bucher-Steinegger, Leiterin Bildung und Mitglied der Geschäftsleitung Schweizerischen Rotes Kreuz, Kanton Zürich

Sie finden in Fachbibliotheken viele Bücher über Depression, die Ihnen Erklärungskonzepte für diese Form menschlichen Leidens liefern. Was in den Büchern seltener anzutreffen ist, das sind Beschreibungen von Angehörigen oder Pflegenden, die depressive Menschen begleiten und den Alltag mit diesen Menschen einzufangen versuchen.

Der folgende Text möchte am Beispiel einiger ausgewählter Aktivitäten des täglichen Lebens Einblick in diese Alltagsrealität der Depression geben. Die Beschreibungen basieren auf Erfahrungen der Autorin als Psychiatrie- und Gesundheitsschwester sowie Berufsschullehrerin für Pflege. Viele Gespräche mit Betroffenen, deren Angehörigen und Pflegenden bilden die Grundlage des Textes.

Ruhen und schlafen
Anna fühlt sich todmüde, vor allem am Morgen. Arme und Beine sind bleischwer. Impulse für alltägliche Handlungen ertrinken in einem Meer von nicht Können, nicht Mögen, Angst, anzupacken und dem Wissen, dass sowieso nichts gelingen wird. Eine innere Stimme schimpft Anna: "Reiss dich zusammen! Denk an deine Familie! Tu nicht so schlapp!" Manchmal kumulieren diese inneren Appelle sich mit den Aufforderungen der Familienangehörigen: "Sei nicht so faul, der Haushalt ist vernachlässigt! Du kannst doch nicht so viele Tage die Arbeit schwänzen, nur weil du müde bist!" Die Panik ist gegenseitig. Es hilft nur die Decke über den Kopf zu ziehen. Damit sind wenigstens die Stimmen von aussen nur noch gedämpft zu hören. Die warme Höhle des Bettes lässt die inneren Vorwürfe aber nur umso lauter werden.

Nachts, wenn Schlafenszeit ist, wälzt sich Anna im Bett: Schlafen ist trotz der lähmenden Müdigkeit unmöglich. Ihr Mann erwacht und murrt: "Ich muss morgen ins Geschäft! Sei endlich ruhig! Es ist die sechste Nacht, in der du mich nicht schlafen lässt!" Der Ton ist aggressiv, Anna bemüht sich, ruhig zu liegen, kaum zu atmen, Schafe zu zählen, Rosenkranz zu beten. Die Rezepte aus den Frauenzeitschriften helfen nicht... also steht Anna auf, nimmt das Buch mit und versucht zu lesen. Es ist immer wieder der gleiche Satz, der Sinn bleibt verschlossen und die schwarzen Gedankenvögel schieben sich dazwischen. "Was bin ich für eine Versagerin, nicht einmal schlafen und lesen kann ich. Ich treibe meine Familie in den Wahnsinn, mache meine Kinder zu psychischen Wracks. Mein Mann wird mich verlassen, was ich verstehe. Ich bin unfähig mein Leben zu gestalten, hässlich, eine Zumutung..." Gedanken dieser Art verfolgen Anna während der schlaflosen Nacht. Manchmal nickt Sie ein, erwacht nach Minuten panisch aus einem Traum: Schwarze Vögel haben Fleisch aus ihrem Leib gepickt.

Sich als Mann oder Frau fühlen
Manchmal will Annas Mann Sex und Anna realisiert, dass sie dabei ausser Abscheu und Ekel auf sich selber nichts empfindet. Wie kann ein Mann nur eine Frau, die so hässlich und schlecht ist, nichts kann und nichts ist, anrühren? Die Leidenschaft, die sie einst für ihn empfand, gibt es nicht mehr: Weder für ihn, noch für einen anderen. Anna fühlt sich nicht mehr als sexuelles Wesen.

Essen und trinken
Anna rührt ihr Brot nicht an. Es misslingt, die Hände zu heben und die Butter auf den frischen Zopf zu streichen. Der Mann wird wütend. Er war extra beim Bäcker, um den Sonntagszopf noch warm auf den Tisch zu bringen. Er sagt es wieder: "Reiss dich zusammen!" Also isst Anna. Der Bissen drängt sich durch den Hals wie ein viel zu grosses Stück Bimsstein, bleibt als Kloss im Magen liegen und wird nie verdaut. Anna sagt leise und ohne Modulation in der Stimme: "Ich bin den Sonntagszopf nicht wert."

Manchmal trinkt Anna abends einen Schluck Wein, der eine Stimmungsaufhellung bewirkt. Für kurze Zeit verschwinden die Angst, die schwarzen kreisenden Gedanken, und Anna kann schlafen. Die Versuchung ist gross, den Alkohol als Therapeutikum einzusetzen. Die Hausärztin, die Anna wegen ihrer Müdigkeit und ihres Stimmungstiefs aufgesucht hatte, hat gewarnt: Der Wein mache süchtig. Besser sei es, Antidepressiva zu nehmen. Jedoch vertrügen sich diese nicht mit Alkohol. Also bleibt das Gläschen für Anna ein seltenes und heimliches Ereignis.

Sich bewegen
Der Weg zum Italiener an der Ecke scheint unendlich weit zu sein. Anna schleppt sich die zweihundert Meter bis dorthin mit grosser Anstrengung. Sie schafft den Rückweg kaum. Glücklicherweise gibt es auf halbem Weg ein Mäuerchen, auf das sie sich für eine halbe Stunde setzen kann. Steine an den Beinen lassen das frühere Weitergehen nicht zu. Die zwanzig Treppenstufen bis zur Wohnung sind ein unüberwindliches Hindernis. Anna steht deshalb unten bei der Haustüre, bis die Tochter aus der Schule kommt, die Mutter an der Hand nimmt und schweigend nach oben führt. Das Mädchen bestellt den Pizza-Kurier, damit es doch noch etwas zu essen gibt. Abends redet der Mann mit Anna: "Das Kind muss zu viel Verantwortung übernehmen. Sie besorgt den ganzen Haushalt und ist doch erst zwölf. So geht es nicht weiter!" Anna erstarrt.

Ausscheiden
Anna ist verstopft. Sie kann seit Tagen nicht mehr auf die Toilette gehen und bestürmt deswegen die Haushilfe, welche die Hausärztin zur Entlastung organisiert hat. Es helfen aber weder die Feigen aus Süditalien noch die Tabletten aus der Apotheke. Die Ärztin sagt, es liege daran, dass Anna sich zu wenig bewege und zu wenig trinke. Wie aber soll Anna sich mit einbetonierten Beinen bewegen und mit zugeschnürtem Hals trinken?

Sich waschen und kleiden
Die Krankenschwester der Spitex steht seit einer halben Stunde neben Anna und versucht sie dazu zu bringen, ihre Körperpflege selber auszuführen. Die Hand mit dem Waschlappen geht im Schneckentempo bis zum Gesicht, der nasse Lappen ist so schwer und der Weg so lang. Anna sagt: "Es hat keinen Sinn, dass ich mich sauber mache. Es stinkt von innen."

Raum und Zeit gestalten
Anna macht nichts mehr aus eigenem Antrieb. Ist sie alleine zu Hause, liegt sie im Bett und starrt an die Decke. Der Mann kommt, seit er Annas Diagnose kennt, mehrmals täglich vorbei, um nach ihr zu sehen, versucht aufzumuntern, etwas von draussen zu erzählen. Manchmal kommt die Wut, die ihren Ursprung in der Verzweiflung und Hilflosigkeit hat. Kann wirklich nichts und niemand helfen?

Sinn finden
Der Pfarrer war bei Anna und hat versucht, durch seine Gebete Trost zu vermitteln. Anna hat ihn weggeschickt: "Eine Sünderin wie mich kann nichts retten, ich gehöre dem Teufel!"

Suizid
Tränen hat Anna schon lange nicht mehr. Über das Nichtleben, dass sie empfindet, traurig sein zu können, wäre Befreiung. Das einzige Gefühl, das sich in Anna Raum verschafft, ist lähmende Angst, sonst herrscht das Gefühl der Gefühllosigkeit. Ein einziger Gedanke lässt Anna nicht mehr los: Sie wird sich das Leben nehmen. So werden die Familie und sie selber endlich frei. Früher drohte sie ihrem Mann manchmal mit Suizid. Er versicherte ihr dann immer, wie sehr er sie liebe und brauche. Diese Liebesbeteuerungen trösteten nicht. Anna fühlte sich dann nur noch mehr gedrängt, etwas zu sein, das sie nicht war. Also spielte sie ihren Suizid nur noch in Gedanken durch. Der Zeitpunkt wird festgelegt. Die Art und Weise muss sicher sein: Überleben ausgeschlossen. Anna stellt erstaunt fest, dass sie ganz ruhig wird. Wie von Ferne beobachtet sie sich selber: Den eigenen Tod planend und in die Tat umsetzend.

Seine Rechte und Pflichten wahrnehmen
Anna räumt ihre Kleider und persönlichen Utensilien auf. Der Mann nimmt erleichtert zur Kenntnis, dass Bewegung in die während Wochen antriebslose Frau kommt und hofft, dass die Schrecken der Depression vorbei sind. Er weiss nicht, dass Anna ihren Abschiedsbrief und das Testament geschrieben hat.

Für Sicherheit sorgen
Anna hat während Wochen Tabletten gesammelt und schluckt den bunten Haufen zusammen mit viel Gin. Sie fährt zum Sterben in ihr Heimatdorf und wandert dort zu ihrem Lieblingsplatz am See. Niemals würde sie ihrer Familie ihren Tod zu Hause zumuten und damit die Heimat zerstören.

Ein Bauer findet Anna früh am Morgen, bewusstlos und dem Sterben nahe, verständigt über Handy die Ambulanz und rettet damit ein Leben.

Anna hat die lebensgefährliche Krise überlebt und dabei eine einschneidende Erfahrung gemacht. Sie will leben, nicht sterben, beginnt irgendwann um ihr Sein zu kämpfen. Als Anna die Erleichterung von Mann und Kindern wahrnimmt, sie lebend in die Arme schliessen zu können, entschliesst sie sich, um ihre Gesundheit zu kämpfen. Klinikaufenthalt, Medikamente und Psychotherapie lehren sie schliesslich, sich selber gut zu beobachten, zu merken, wenn die schwarzen Gedanken und Gefühle kommen und sich dann Hilfe zu holen. Angehörigengespräche lassen Mann und Kinder Entlastung erfahren.

Es ist normal, Wut auf depressive Angehörige und die Krankheit zu empfinden. Besonders, wenn noch keine Diagnose Lethargie und ständige Hoffnungslosigkeit erklärt. Diese Wut entspringt zum Teil der eigenen Hilflosigkeit, der Ohnmacht gegenüber der Macht der Krankheit. Manchmal sind Gefühle der Wut und Aggression sogar Hinweise darauf, wie sich Kranke selber fühlen würden, wenn sie fühlen könnten.

Familienangehörige und Pflegende leisten einen der wichtigsten Beiträge zur Unterstützung depressiver Menschen: Sie halten schwierige Situationen aus, begleiten und bleiben trotz Gefühlen, die schwer zu ertragen sind, da. Die Belohnung dafür ist, Angehörige, Patienten oder Patientinnen nach der Depression wieder glücklich zu sehen.


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