Angehörige

Weg der Angehörigen

Vreni Diserens, Angehörige und Präsidentin der VASK

Der Weg der Angehörigen ist sehr lange. Er beginnt schon vor der ersten Begegnung mit der Psychiatrie. Erkrankt jemand aus nächster Nähe, aus dem Familienkreis, an dieser rätselhaften Krankheit, ist die Not und die Hilflosigkeit sehr gross.

Angehörige stehen der Veränderung eines Kindes, eines Partners oder einer Partnerin völlig hilflos gegenüber. Der Betroffene verhält sich nicht mehr so, wie wir uns gewohnt sind. Er macht die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht. Er hat in der Schule oder im Geschäft Schwierigkeiten, kann sich nicht mehr konzentrieren, sein Äusseres ist verwahrlost, die Hygiene lässt zu wünschen übrig, er zieht sich zurück oder wird aggressiv, spricht leise mit sich, fühlt sich verfolgt und hört Stimmen. Solche Veränderungen versucht die ganze Familie vorerst als normal anzusehen. Sie gibt beim Jugendlichen der Pubertät die Schuld, beim Partner ist es eine Persönlichkeitskrise oder der Umgang ist schlecht, die Freunde sind nicht ideal. Wir versuchen einfach für alles einen Schuldigen zu finden. Wir reden auch vorerst nicht über diese Veränderungen, sondern wir nehmen sie mit Unbehagen zur Kenntnis. Nicht nur die Mutter, der Vater, nein, die ganze Familie und auch die Umgebung spricht nicht darüber, sondern alle denken sich irgend etwas.

Bis es zu einer Klinikeinweisung kommt, kann sich eine solche Situation über Monate, manchmal über Jahre hinziehen. Das Klima verschlechtert sich merklich in der Familie und in der Umgebung. Die Veränderung eines uns so vertrauten Familienmitgliedes macht uns Angst. Wir versuchen, uns selbst zu betrügen, indem wir Schuldige suchen. Wir sehen nicht mehr klar. Die Konflikte in der Familie spitzen sich zu und der Umgang miteinander verschlechtert sich. Jedes einzelne Familienmitglied vereinsamt innerhalb der Familienstruktur. Wir isolieren uns, indem wir nicht mehr miteinander sprechen können über unsere Not. Unsere eigenen Bedürfnisse werden zurückgestellt, wir geben unseren Freundeskreis auf, wir fahren nicht mehr in die Ferien, besuchen keine Anlässe mehr. Wir Angehörigen steigern uns oft in eine sehr ungünstige, unwirkliche Situation, welche uns in chaotische, abgrundtiefe und oft kriegsähnliche Zustände innerhalb der Familie führt. Die Krankheit verändert das Leben der Familie völlig, ganze Familienstrukturen werden ausser Kraft gesetzt, Angehörige vereinsamen, werden sprachlos, zermürbt, fühlen sich mit der Zeit unverstanden, überfordert und schuldig. Diese eben erwähnten Veränderungen werden zum Lebensinhalt der ganzen Familie.


Klinikeinweisung

Ein erkranktes Familienmitglied in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, ist immer mit Schuldgefühlen verbunden. Die Ereignisse vom Ausbruch der Krankheit bis zu einer Einweisung in eine Klinik sind so einschneidend für uns sogenannt Gesunde, dass auch wir oft in ganz schlechter Verfassung sind. Wir sind am Rande des Erträglichen, wir sind gedemütigt, verletzt, traurig und ausgelaugt. Wir empfinden die zehnte Einweisung als genau so schlimm wie die erste.

Aussprüche von Angehörigen in der Not – hier einige Beispiele:

  • Nach einer Klinikeinweisung: Ich bin mir vorgekommen wie eine Trümmerfrau nach dem zweiten Weltkrieg. Nur dass offenbar nirgends sonst ein solcher Krieg stattgefunden hat als eben in unserer Familie.
  • Spät abends, wenn die anderen schlafen, überkommen mich die Sorgen, die Hilflosigkeit und die Verzweiflung, und ich lasse meinen Tränen freien Lauf.
  • Ich habe das Gefühl, dass ich in der eigenen Wohnung nicht mehr zu Hause bin. Ungeniert fühle ich mich nur noch im Auto und im WC, wo ich, wie jeder andere normale Mensch auch, die Tür hinter mir verschliessen und allein für mich sein kann.
  • Urlaub kenne ich nur noch aus den Ferienprospekten. Und freie Abende sind Träume von gestern.

Angehörige brauchen Hilfe! Allein schaffen sie es nie!


> Zurück zur Liste
> Text ausdrucken
> Nach oben