Behandlungsformen

Begleitung durch depressive und suizidale Krisen

Prof. Dr. med. Manfred Wolfersdorf

Psychotherapie beschäftigt sich mit dem Menschen, seiner Wahrnehmung und Beurteilung von Situation, seinem aktuellen emotionalen Erleben, seinen Bewältigungsmechanismen, den mehr oder minder bewussten Motivationen seines aktuellen Handelns, der Geschichte seines Erlebens in individueller und familiärer Vergangenheit. Psychotherapie lässt sich so am besten als spezifische Beziehungsgestaltung zwischen seinem Therapeuten und einem Patienten vor dem Hintergrund eines Krankheitskonzeptes und einer darauf abzielenden Therapietheorie definieren. Zur Durchführung dieser gezielten und methodisch strukturierten Kommunikation, meist verbaler Art, ist von Therapeutenseite eine entsprechende Qualifikation mit Ausbildung, Selbsterfahrung und Supervision notwendig. Wesentliche Wirkfaktoren aller Psychotherapieformen sind nach heutiger Kenntnis dabei

  • eine intensive emotionale Beziehung, die Bereitschaft, psychosoziale Kompetenz und Beziehungsfähigkeit vom Arzt erfordert.
  • Ein verdeutlichbares Krankheits- und -Behandlungskonzept, was Kenntnis und Wissen über psychische Erkrankungen auf Arztseite bedingt, sowie
  • Eine krankheits- und störungsspezifische Methodik der Interaktion, der hilfreichen Beziehung.

Ziele von Psychotherapie und Therapie überhaupt sind Besserung von Symptomatik, Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit sowie der Lebensfähigkeit im gegebenen Umfeld, dabei auch Akzeptanz und Anpassung an unveränderbare Gegebenheiten. So kann die Erhöhung der Leidensfähigkeit und die Lebensplanung bei chronischer Depression auch Psychotherapieziel werden.

Menschen, die Hilfe suchen, sind auf gute, stützende und befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen, die sich durch positive Wertschätzung und emotionale Wärme, durch empathisches Verstehen der seelischen Abläufe beim Patienten, durch die Vermittlung kompetenter diagnostischer und therapeutischer Kenntnis beschreiben lässt.

Der Depressive hat das Recht auf eine dem Standard entsprechende Behandlung

Nach heutigem Wissenstand ist die Kombination psychotherapeutischer, biologischer (psychopharmakoptherapie, nicht-pharmakotherapeutische biologische Verfahren wie Schlafentzug und Lichttherapie) sowie systematischer (z.B. familienorientierter)

Behandlungsansätze bei depressiv Kranken Standart jeder guten und einforderbaren Depressionsbehandlung. Dies gilt nicht nur für die Akutbehandlung eines depressiven Syndroms mit Antidepressiva, psychotherapeutischen Gesprächen und Einbeziehung der Familie und des Umfeldes, sondern auch für die Langstreckenbehandlung, die bei vielen depressiv kranken Menschen heute über mindestens ein bis drei Jahre im Sinne der Verschlechterungs- und Rezidivprophylaxe laufen muss.

Damit sind Grundkenntnisse in der medikamentösen wie auch der psychotherapeutischen Behandlung gefordert und wie bei einer Hypotonie-Therapie hat der Depressive das Recht auf eine dem Standard heutigem Wissens entsprechende Behandlung auf biologischer und psychologischer Ebene. Ziel nachfolgender Ausführung ist so die Vermittlung psychotherapeutisch-psychodynamischer Grundkenntnisse.


Tiefenpsychologische Überlegungen zur Depression

Im Rahmen eines psychologischen Grundverständnisses kann Depression einmal als Ausdruck einer neurobiochemischen Störung (biologische Ausgangsbedingung) verstanden werden. Hieraus leitet sich die Legitimation für biologische Behandlung (Antidepressiva, Lichttherapie, Schlafentzug) ab. Psychodynamisch kann Depression als Reaktion einer in bestimmter Weise disponierten Persönlichkeit auf reale, objektiv oder subjektiv erlebt oder antizipierte Verluste gelten, als Reaktion auf Kränkungen, Zurückweisungen, Verletzungen, auf Verlust von Lebens- und Liebesmöglichkeiten, von körperlicher Integrität, Gesamtheit und Konstanz der psychophysischen Verfügbarkeit. Hier spielen die individuelle Lerngeschichte, die familiäre Beziehungskonstellation, die Entwicklung in Kindheit und Jugend eine bedeutsame Rolle.

Folgendes wird bei depressiv Kranken gefunden:

  • hohe Bedürftigkeit nach Zuwendung,
  • erhöhte Verletzbarkeit des Selbstwertgefühles,
  • das Gefühl existentieller Bedrohtheit durch Trennung und Verluste,
  • negative Sichtweise der eigenen Person, Vergangenheit, der aktuellen Umweltbeziehung, Leistungsfähigkeit sowie der Zukunft,
  • eine Einstellung von Hoffnungslosigkeit mit der Erwartung mangelhafter oder fehlender Kontrolle über positive oder negative Lebensereignisse und
  • eine Unfähigkeit, für die eigene Person und das eigene Handeln positive Verstärkung i.S. sozialer Kompetenz einzuholen, was als soziales Defizit bezeichnet werden kann.

Aus „Hausärztliche Depressionsbehandlung: Psychotherapie - Begleitung durch depressive und suizidale Krisen“ in: Therapiewoche 1, 14 – 23 (1995)


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