Gesundung

Chronifizierung

Referat von Monika Z., Betroffene
gehalten am 30. November 2000, Psychiatrische Universitätsklinik Basel

Chronifizierung: Im Lexikon finde ich unter dem Begriff chronisch: langsam verlaufend, schleichend, hartnäckig. Im Pschyrembel (klinisches Wörterbuch) steht: langsam sich entwickelnd, langsam verlaufend.

Chronifizierung, irgendwie ein Wort des Schreckens: etwas definitives, irreversibles. Ich leide seit rund 30 Jahren immer wieder an Symptomen einer psychischen Krankheit, bis hin zu paranoiden Psychosen. Trotzdem denke ich: Chronisch krank? Ich doch nicht! Dann befällt mich der Gedanke wieder bleischwer: Ich bin chronisch krank, ich werde mein ganzes Leben Medikamente schlucken und aufpassen müssen. Ich kann die Ideale unserer Gesellschaft nicht erfüllen. Immer fit, fröhlich, jung, leistungsfähig, belastbar, produktiv, lustvoll, erfolgreich.

Chronifizierung beinhaltet für mich das Verb chronifizieren und das Adjektiv chronifizierend. Das heisst: ich chronifiziere meine Krankheit selber oder eine Situation oder andere Menschen wirken chronifizierend. Zwischenmenschliche Ungereimtheiten werden auf das schwächste Glied abgewälzt und wirken krankheitsverstärkend.

Obwohl ich seit 30 Jahren leide, wehre ich mich, abgestempelt und verachtet zu werden. Ich will Achtung und Respekt. Dieses Eingeständnis gibt mir auch die Kraft, mit Mut etwas zu wagen. Zum Beispiel mit meiner Krankheit eine andere Meinung in die Gesellschaft einzubringen. Was ist lebens- und liebenswert? Ist das Leben eines leidenden Menschen sinnlos? Ist Leiden sinnlos? Oder könnte es sein, dass mit dem Leiden zum Beispiel in der Gesellschaft geltende Werte hinterfragt werden?

Chronifizierung - ist die tatsächlich so schrecklich und gefährlich, oder kommt es auch auf das Umfeld an, welches einen chronisch Leidenden ablehnt, abstempelt und als Belastung erlebt? Für den chronisch Kranken ist es einfacher, seine Behinderung anzunehmen, wenn auch sein Umfeld dies als Lebenssituation annimmt, von der man lernen und an der man wachsen kann.

Chronifizierung: Die Gesellschaft kann ich nicht ändern, aber ich kann mich schrittchenweise entwickeln und meine Sichtweise in die Gesellschaft einbringen. Wenn ich von meinem Umfeld erhoffe, dass es positiv mit meiner Behinderung umgeht, dann muss ich dies selber auch tun und lernen, die Bedürfnisse meiner Angehörigen zu sehen und mitzuhelfen, dass auch diese erfüllt werden. Ich wehre mich gegen Chronifizierung, denn ich will gesund sein. Aber die Krankheitserfahrung hat heute für mich einen Wert. Wie weit chronifiziere ich die Krankheit selber, wenn ich täglich Medikamente schlucke? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies weniger beeinträchtigend ist, als x fehlschlagende Absetzversuche es sind.

An der diesjährigen GV von Equilibrium wurden zwei sehr gegensätzliche Therapieformen vorgestellt. Die Elektrokrampftherapie und die Psychotherapie. Die Einstellung des Arztes, der die Elektrokrampftherapie durchführt und uns vorstellte, war: Die Depressionskrankheit ist eine sehr schwere, unheilbare Krankheit. Die Elektrokrampftherapie könne das Leiden für Monate bis zu einem Jahr zum Verschwinden bringen, bis sie wieder auftritt. Diese Erfahrung dieses Arztes wirkt sehr ernüchternd und chronifizierend. Was ich an seiner Einstellung gut finde ist, dass sie das Leiden des Patienten sehr ernst nimmt, aber sie lässt keinen Platz für die Hoffnung auf Heilung. Die Patientin war auch anwesend. Es war eindrücklich, wie sie berichtete. Sie hat erlebt, wie ihr diese Therapie aus einem unerträglichen Zustand geholfen hat. Diese Behandlung geschieht jeweils in einer 10 minütigen Narkose. Dies erinnert an einen chirugischen Eingriff und an Machbarkeit.

Bei der Psychotherapie ist es anders, da ist gerade die Hoffnung eine wichtige Kraft, auch wenn sie der Patient nicht hat, die Therapeutin hegt sie für ihn, bis sie auch bei ihm wieder zu keimen beginnt. Patienten, Ärzte und Therapeuten können chronifizierend auf die Krankheit wirken, wenn sie völlig resigniert haben. Die verschüttete Lebenskraft muss gesucht, positive Kraft entwickelt und gestärkt werden. Ich bin fast ganz sicher, dass meine Homöopathieärztin bei mir in dieser Richtung Wunder gewirkt hat. Sie hat mir mal gesagt, man komme durch die homöopathische Behandlung näher zu Gott. Wenn das bedeutet heiler, gesünder zu werden, dann geschieht dies mit mir.

Seit einiger Zeit habe ich ein zunehmendes Gefühl von wirklich psychisch stabil und gesund werden, was für mich bedeutet, ohne chemische Medikamente leben zu können. Ich möchte nochmals auf das Beispiel mit der Elektrokrampftherapie zurückkommen. Für diese Patientin mag es das Richtige sein. Es hat ihr geholfen, sie hat sich nachher gesund gefühlt. Ich für mich bin froh, dass ich einen anderen Weg gefunden habe, der mich weniger abhängig macht und auf dem ich Wesentliches gelernt habe, und der mir das Selbstbewusstsein und Vertrauen gibt, da bin ich raus gekommen, und ich weiss, welche Hilfe für mich gut ist.

Ich habe gelernt, mit der Krankheit zu leben, d.h. mit Hilfe von Frühsymptomen rechtzeitig zu reagieren und schwerere Symptome zu vermeiden. Ich schaue mich nicht als geheilt an, solange ich täglich Medikamente schlucken und ärztliche oder therapeutische Hilfe beanspruchen muss. Ich finde, ich habe eine sehr gute Lebensqualität, obwohl ich mich bewusst einschränke und mich oft zurückziehe, um genügend Ruhe zu haben. Ich erlebe, dass ich mit und durch das Leiden sehr gesunde Anteile in mir ausgebildet habe und noch weiter stärke.

Ich meine, trotz chronischem Leiden ein schönes Leben führen zu können und zwar so, dass ich eigentlich gar nicht leide. Natürlich war das nicht immer so, und ich habe auch keine Gewissheit, dass dies immer so bleiben wird. Auch weiss ich von der Selbsthilfegruppen-Arbeit und dem, was ich in der Klinik erlebt und gesehen habe, dass es sehr traurige und ausweglos scheinende Zustände gibt. Ich sage mir immer wieder: Ich kann niemandem helfen, wenn es mir schlecht geht, also schaue ich, dass es mir gut geht, dann fasst der Eine oder Andere Hoffnung aus meinem Beispiel. Ich wiederum habe Motivation zu schauen, dass ich mich nicht verausgabe. Ich finde das keinen Egoismus, sondern Selbstverantwortung. Das Wahrnehmen der Selbstverantwortung und das Bemühen um Selbstbestimmung schützt vor dramatischer Chronifizierung.

Ich komme nochmals zum Anfang zurück: chronisch heisst langsam verlaufend, schleichend, hartnäckig. Es heisst nicht, unheilbar. Viele meinen das aber. Diese Meinung hat eine stark belastende Wirkung. Meine Eltern hatten nach meiner ersten Einweisung die Ueberzeugung: Es sei hoffnungslos. Dies vernahm ich erst viele Jahre später, in denen auch meine Eltern wieder Hoffnung fassten. Aber in dieser Zeit, wo es so schlimm war, wusste ich, dass ich mich entscheiden muss. Entscheiden, ob ich leben will oder nicht. Das ist ohne Willenskraft und ohne Entscheidungsfähigkeit eigentlich nicht denkbar. Ich fühlte und erlebte mich leer und unfähig. Was ich aber wahrnahm, war so etwas wie ein stecknadelkopf grosser Punkt in mir. Was ich auch hatte, war grosse Abscheu und Misstrauen den Medikamenten und den meisten Fachpersonen gegenüber. Ich wusste, ich bin von ihnen abhängig und wenn ich überleben will, muss ich kooperieren. Dies tat ich, obwohl ich mich als falsch und unehrlich erlebte, da ich nichts als Abwehr, Empörung, nicht verstanden Sein und Misstrauen empfand. Meine Mutter besuchte mich wöchentlich, was mir entscheidend half. Ohne dies, weiss ich nicht ob ich die Kraft zum Durchstehen und Leben gefunden hätte. Ich möchte sagen, dass ein hoffnungslos scheinender Fall, dies vielleicht nicht ist und dass eine chronische, psychische Krankheit nicht definitiv unheilbar ist, wenn Raum für die Möglichkeit einer Heilung geschaffen wird, ohne den Boden der Realität zu verlieren.


> Zurück zur Liste
> Text ausdrucken
> Nach oben