Gesundung

Wege aus der Depression

Sylvia B., Betroffene

Mein allmähliches Auftauchen aus der Depression begann damit, dass ich wenigstens kleinste alltägliche Aufgaben wieder besser bewältigte. Allerdings war eine sehr klare Strukturierung und Planung nötig, immer sehr vorsichtig dosierend. Ich merkte mehr und mehr, wie sehr ich mich selbst unter Druck setzte mit Anforderungen, die mich weit in die Zukunft in Verantwortung genommen hätten; Lebensziele, die mich erschlugen und aller Energie beraubten. Diese realitätsfremden Ansprüche galt es, zurückzustellen und mich ausschliesslich auf jeden einzelnen Tag zu konzentrieren. Da ich aber vorher über lange Zeit immer nur zurückstecken musste, galt es nun, langsam meinen Lebensraum wieder etwas auszuweiten, risikofreudiger zu werden im kleinen: Es wieder wagen, mit jemandem ein Treffen abzumachen und auch hinzugehen, mir kleinste Freuden zu gestatten, wie ein Eis zu essen im Gartenrestaurant und auch bewusst zuzugestehen, dass ich diesen kurzen Moment geniessen konnte...

Ich glaube, der Weg aus der Depression besteht aus zwei Teilen: Da ist der Teil unabhängig von meinem Wollen, meiner Anstrengung und meinem Sehnen nach Gesundung. Etwas in mir hat sich verändert, ohne dass ich es irgendwie festmachen könnte an mein Zutun, an meine Situation, an einen begründeten Wendepunkt. Und doch war es plötzlich da, unmerklich fast: Ich registrierte irgendwann, dass mir dies oder jenes leichter von der Hand ging, dass vielleicht das Aufstehen an einem Morgen nicht mehr nur Qual war... Da war wieder mehr Energie in mir, wenig noch, aber ich spürte wieder etwas wie Mut, Energie, zum Teil Interesse auch an etwas ausserhalb von mir - sei es nur ein Vogel draussen auf dem Baum vor dem Fenster. Diese Veränderung meiner Wahrnehmung erlebte ich völlig ausserhalb meines Einflusses und Zutuns.

Damit komme ich auf den zweiten Teil meines Weges aus der Depression zu sprechen, der sehr wohl mit mir zu tun hatte, der mich brauchte, mir heute noch Kraft, Geduld und Willensstärke abverlangt: Ich musste lernen, die oben beschriebenen Veränderungen nicht nur mir bewusst zu machen und wahrzunehmen, sondern sie auch zu akzeptieren und ernst zu nehmen. Das mag komisch klingen, freut sich doch jeder, wenn es ihm gut geht. Doch nach so langer Zeit der Freud- und Leblosigkeit sitzt dieses Selbsterleben tief!

Ich hatte riesige Angst zu sagen: “Mir geht es gut!”. Angst, dass es doch gar nicht sein kann, Angst, dass es gleich wieder vorbei ist damit, Angst, dass ich die Zuneigung und Zuwendung verlieren könnte von jenen Menschen, die mich in meiner schlechten Zeit begleiteten und sich um mich sorgten, Angst auch vor den Anforderungen, die nun, da es mir besser ging, wieder an mich gestellt würden.

Auch mein völlig internalisiertes und zur Selbstverständlichkeit gewordenes negatives Denken zog mich immer wieder mit aller Macht in die Krankheit zurück. Mit aller Kraft und grosser Beharrlichkeit musste ich lernen, umzudenken und all dem Negativerleben ganz bewusst auch die kleinen positiven Erfahrungen gegenüberstellen und deren Bedeutung auch ebenso hoch werten wie das Schwere. Ein guter Tag konnte durch ein schlechtes oder falsches Wort seine ganze Bedeutung verlieren. Und so musste ich lernen, meine Wahrnehmungen klarer zu differenzieren, mich auf mein eigenes Entwerten alles Wohltuenden zu sensibilisieren und mit aller Macht etwas neues entgegen zu setzen. Mein Tagebuch war voll der Negativerfahrungen - warum nicht einmal abends alles Gute aufschreiben und den Rest weglassen? Und so war und ist es heute noch eine kräfteraubende Arbeit, mich und mein Erleben realitätsbezogener und farbiger zu entdecken, als es manchmal scheint.

Wieder waren Menschen wichtig, die mir meine Erfahrungen als normal und zum menschlichen Leben gehörend bestätigten. Erstmals fühlte ich mich niedergeschlagen oder traurig, ohne dies gleich mit meiner Krankheit in Verbindung zu sehen. Menschen sind traurig, wütend oder gleichgültig genauso wie glücklich, aufgestellt oder begeisterungsfähig!

Viele neue Erlebnisse veränderten mein Leben nachhaltig. Im Moment bemühe ich mich sehr darum, den “Banalitäten” im menschlichen Leben (Kontakte, Naturerleben, Arbeit, Alltag...) ihren Platz zu geben, ihre Wichtigkeit im abwechslungsreichen Gefühlsleben der Menschheit und mir als einem Teil davon ernst zu nehmen und den entsprechenden Platz in meinem Leben zu geben. Nebst den allseits bekannten Symptomen der Depression ist die Selbstabwertung bis hin zur Selbstzerstörung wohl das Fatalste. Darum wünsche ich mir, mir selbst gegenüber immer mehr Achtung, Zuneigung und Verständnis entgegenbringen zu können, so dass all die liebevolle Unterstützung der mir nahestehenden Menschen nicht umsonst war. Dafür kämpfe ich – noch immer!


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