Gesundung

Flussbett

Regula P., Betroffene

Morgen? Morgen. Dumpfe Beklemmung. Auf Leib und Herzen. Von aussen dringen stechende Farben, schrille Stimmen rein und durchschneiden die Herzhaut. Wie kriege ich bloss diesen Tag rum? Und morgen und übermorgen? In der Küche stapelt sich das dreckige Geschirr. Am liebsten nur hier auf dem Bett liegen bleiben, nicht bewegen, nichts hören, aufhören zu atmen, reglos, ein langer dunkler Tunnel, die Glieder bleiern, bloss keine Bewegung, stockstill. Die Zeit stockt, das Blut stockt, die Luft stockt, der Lebenssaft stockt. Und immer wieder von draussen absurde Gesprächsfetzen, von mir abgeschnitten und doch bedrohlich. Leben findet ausserhalb von mir statt. Ver-rückt. Das Herz? Zerbrochen liegt es am Boden, versehrt. Und das Grauen: vor mir Abgründe, gähnende Leere, auch reale Abgründe, in Italien, wohin ich mich von einer Freundin leiten liess, über steile Klippen schaue ich weit hinunter zum wogenden Meer, zur rauschenden Brandung. Jetzt fallen, stürzen und endlich… Ruhe. Komm, sagt fein eine freundliche Stimme.

Ich lasse mich fallen, in die Abgründigkeit. Nein, tiefer geht es nicht mehr. Jetzt muss etwas geschehen. Jetzt muss Hilfe kommen.

Ganz unvermittelt sind zwei unsichtbare Hände da. Die halten, die tragen mich. Ich liege in einem steinigen Flussbett. Hände und Flussbett tragen mich. Tief innen schmilzt ein Kern. Mein Leib zerfasert, löst sich auf. Ein Hauch nur. Ich weiss nicht mehr, was Hand, Fuss, Kopf ist. Ein Augenblick nur, dann ist alles vorbei. Das Glück die Seligkeit. Ich versuche, das Gefühl zurückzurufen, vergebens. Es will nicht wiederkommen. Was bleibt ist die Erinnerung.

Jetzt wächst das Vertrauen. Und es geht bergauf. Ganz sachte, ganz langsam. Nach eineinhalb Jahren, nach einer unendlich langen Zeit der Dunkelheit, der erste schöne Augenblick. Ich staune: ach, dies war ja angenehm. Dies hat ja schon fast Spass gemacht. Anfänglich nur ein Augenblick, und gleich wieder dunkle Leere, dann der nächste, die Zwischenräume verkürzen sich und allmählich wächst in mir ein Kern, allmählich halte ich mich wieder aus, ertrage das verwundete Herz, das Grauen. Zaghaft schaue ich wieder in die Welt. Allmählich kann ich wieder ein Buch lesen.

Und ich befinde mich an einem anderen Ort. Ich habe neue Freunde, mein Leben bewegt sich auf neuen Strassen, hat eine neue Form. Ich entdecke mich neu, spiele eine andere Musik. Ich spreche anders, fühle anders, und manchmal möchte ich die Welt umarmen.

Bin ich heute dankbar? Insgesamt drei Jahre des Grauens und der Verzweiflung waren ein harter Kampf. Zerbrochen bin ich daran nicht, vielleicht deshalb nicht, weil ich liebe Freunde um mich wusste. Letzlich haben mir die Zeiten der inneren Lähmung - im Rückblick - eine neue Welt greifbar gemacht, den Weg zur Veränderung gezeigt. Auch die Schatten sind für mich heute Lebenssaft und ein Ort des Da-Seins.


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