Gesundung

Depression als Stigma, das Stigma der Depression

Dr. med. Ruedi Osterwalder

Das Wort Stigma wird häufig gebraucht und oft ist man sich dessen bewusst. „Stigma“ hat eine lange Geschichte: In der Antike wurde es als Brandmahl für Sklave und Verbrecher verwendet. Es war damit ein unauslöschliches Kennzeichen für eine Gruppe von Menschen, welche als minderwertig angesehen wurden. In der christlichen Kultur hat Stigma eine ganz besondere Bedeutung bekommen, es werden darunter die Wundmahle Jesu verstanden. Vor allem bei Mystikern, welche sich mit dem Schicksal von Jesus identifizierten, traten gelegentlich an Händen und Füssen Stigmata auf, das heisst, es gab Wundstellen an den selben Orten, wo Jesus diese nach der Überlieferung hatte. Das Wort Stigma hat also verschiedene Facetten der Bedeutung, es kann auf Ausgliederung, Minderwertigkeit, Brandmarkung hinweisen, es ist aber auch Zeichen der Verwandlung, des Leidens bis hin zur mystischen Identifikation mit den Wundmahlen Jesu.

Wenn wir das Wort „Stigma“ verwenden und dies auch in den Zusammenhang mit Depressionen bringen, können wir folgende Bedeutungen erkennen:

  • Es wird etwas sichtbar
  • Es wirkt diskriminierend
  • Es dauert auf unbestimmte Zeit an
  • Es verweist auf ein Leiden

Im folgenden soll auf die vier Bedeutungsinhalte eingegangen werden:


Es wird etwas sichtbar

Der depressive Mensch kann in der Regel sein Leiden nicht verheimlichen. Depression ist eine schwere Erkrankung, welche sich sowohl körperlich wie seelisch zeigt. Im körperlichen Bereich erkennen wir den Depressiven an seiner Haltung, an seiner Mimik, an der verminderten Leistungsfähigkeit, oft nimmt er an Gewicht ab wegen Appetitmangel und leidet unter schweren Schlafstörungen. Im seelischen Bereich wird das Leiden sichtbar durch die gedrückte Stimmung oder das Gefühl der Leere und Öde, der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, es bestehen düstere Gedanken, die oft ausgedrückt werden. Das Gedankenkreisen wird besonders schwer für den Patienten wie für die Umgebung, wenn die Inhalte sich um Selbsttötung drehen. Im sozialen Bereich wird das Leiden in der Regel durch Rückzug, Isolation und Interesselosigkeit sichtbar. Das, was sichtbar wird, erfährt oft noch eine Vertiefung durch den Patienten selbst. Durch das Erleben von Sinnlosigkeit, Wertlosigkeit, Schuldgefühle und Angst besteht die Gefahr, dass die Kranken diese negativen Aspekte in einer Art Bekennungsdruck gegen Aussen tragen und dadurch oft Reaktionen der Umgebung provozieren, die gar nicht unbedingt nötig wären. Die Selbstbezichtigungstendenz kann zu Krisen in Beziehungen, aber auch zu Problemen am Arbeitsplatz führen.


Es wirkt diskriminierend

Wer stigmatisiert ist, wird offensichtlich auch diskriminiert, dies scheint jedenfalls die vorherrschende Meinung zu sein. Bei genauerem Hinsehen muss dieses Urteil, beziehungsweise Vorurteil, differenzierter betrachtet werden. Das Gefühl, diskriminiert zu werden, gehört als Symptom fast notgedrungen zur Depression. Wer sich echt depressiv fühlt, kann sich nicht mehr wertvoll erleben und damit besteht die Gefahr, das Diskriminierende dieses Gefühl in die Umgebung, in die Gesellschaft zu projizieren. Da es aber tatsächlich auch diskriminierende Aspekte gegenüber Psychischkranken gibt, sieht sich der Kranke auch immer wieder bestätigt in seinem Gefühl der Wertlosigkeit und des Ausgegrenztwerdens.

Reale Diskriminierungen können im beruflichen Bereich auftreten, vor allem wenn Arbeitgeber nicht richtig informiert sind über den Verlauf von depressiven Erkrankung. Die langjährige Erfahrung zeigt erfreulicherweise aber auch, dass viele Betriebe im Umgang mit depressiven Patienten gelernt haben, zuletzt deshalb weil Menschen, die zu diesen Krankheiten neigen, in der Regel von ihrer Grundpersönlichkeit her sehr gewissenhafte und pflichtbewusste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind.

Diskriminierungen können aber auch im Versicherungsbereich auftreten. Dort entstehen vor allem Probleme wenn sich jemand, der schon einmal wegen Depressionen in Behandlung war eine überobligatorische Versicherung abschliessen möchte. Besonders tragisch kann sich die Diskriminierung auch im Unfallversicherungsbereich zeigen, wenn sich nämlich ein schwerst Depressiver das Leben nimmt ist es ausserordentlich schwierig, dies als so schweren krankheitsbedingten Akt der Versicherung gegenüber glaubhaft zu machen, dass Versicherungsleistungen im Sinne des Unfallversicherungsgesetzes zum Tragen kommen.

Diskriminierung kann aber auch im zwischenmenschlichen Bereich beobachtet werden, hier ist es eine Wechselwirkung zwischen Patient und Umgebung. Depressive neigen dazu, sich selbst als weniger liebenswert zu erleben, teilen dies auch mit, andererseits kommt es immer wieder vor, dass Mitmenschen Mühe haben, die Depression eines Partners oder eines Familienmitglieds als Krankheit zu akzeptieren und lassen es die Patienten gelegentlich auch spüren. Es kann auch Probleme geben, wenn junge Menschen Partnerschaften eingehen und Angst haben, die Krankheit Depression könnte in der Beziehung zu nicht überwindbaren Schwierigkeiten führen oder ein Kind könnte die Veranlagung erben. Wenn solche Fragen auftauchen, kann man sie nicht einfach bagatellisieren, sondern sie müssen ausführlich in der ganzen Tragweite diskutiert werden. Es ist in solchen Situationen auch wichtig, dass die Betroffenen sich genau informieren über das Wesen der Depression als Krankheit, über die Einflüsse der Vererbung, aber auch über die vielfältigen psychosozialen Auslösungssituationen, welch zu Depression führen können. Auch hier gilt was im Bereich Arbeitswelt gesagt wurde: Menschen, die zu Depressionen neigen, sind in der Regel sehr sensitive, gefühlsvolle Menschen, die gerade dadurch zu wertvollen Partnern werden können.


Es dauert auf unbestimmte Zeit an

Das Wort „Stigma“ vermittelt, dass es sich bei der Depression um etwas andauerndes, lebenslängliches handeln könnte. Auch auf diese Fragestellung gibt es keine ganz einfache Antwort. Da es sehr viele Ursachen für Depressionen gibt, kann es auch keine Standardantwort geben. Wenn eine Depression durch ein körperliches Leiden verursacht ist, wie z.B. Eisenmangel, ist klar, dass mit der körperlichen Behandlung die Depression auch zu Ende ist und nicht andauert. Wenn die Depression eher in Richtung einer vererbten Krankheit geht, besteht in der Regel nicht die Gefahr einer dauernden Behinderung, sondern diese Depressionen verlaufen in Phasen und können heute auch recht gut behandelt werden.

Jedenfalls besteht bei jeder Depression die konkrete Hoffnung, dass sie vorbeigeht. Was man nicht mit Sicherheit sagen kann ist, ob sie wieder auftreten wird. Die wichtigsten Strategien im Umgang mit dieser phasisch verlaufenden Krankheit sind; Erweiterung des Wissens um das Wesen der Krankheit, das Lernen, damit umzugehen und die Kenntnis von wirksamen Therapieformen.


Es verweist auf ein Leiden

Depressive Zustände sind mit einem unendlichen Leiden verbunden. Viele Patienten sagen, dass der Zustand einer Depression unerträglich sei, manchmal wünschen sie sogar lieber eine körperliche Krankheit zu haben als diese schweren Zustände. Tatsächlich sind Depressionen „mühsame Krankheiten“. Dies empfinden sowohl die Kranken wie die Mitmenschen. Wenn das „mühsam“ gebraucht wird, besteht die Gefahr eines grossen Missverständnisses. Viele verbinden damit die Assoziation, es handle sich dabei um mühsame Menschen. Mühsam ist aber nicht der Kranke, sondern die Krankheit. Diese Unterscheidung zu machen ist für viele Betroffene und ihre Mitmenschen sehr hilfreich.

Im Umgang mit der Krankheit ist es deshalb wichtig, dass alle Betroffenen ehrlich zu ihren Gefühlen stehen können, es hat keinen Wert zu bagatellisieren oder so zu tun, wie wenn es einem nichts ausmachen würde, wenn ein Mitmensch über Monate klagsam und nihilistisch wirkt. Es braucht eine grosse Anstrengung, alle die depressiven Symptome als Krankheit abzugrenzen und nicht dem Betroffenen „anzulasten“. In der Regel lohnt es sich, das Problem, das Leiden beim Namen zu nennen und mit allen Betroffenen, ob krank oder gesund, gemeinsam eine Strategie zu suchen, welche hilft, die schwierige Zeit der Krankheit gemeinsam durchzustehen und allen im Rahmen der Möglichkeiten doch noch Freiräume zu erhalten.

Das Leiden kann so stark sein, dass sich den Kranken Selbsttötungsgedanken aufdrängen. Dies durchzustehen, die Verantwortung zu teilen und an den Sinn des Lebens zu glauben, ist eine grosse Herausforderung. Von zentraler Bedeutung ist die Information und das Wissen darüber, was Depressionen tatsächlich sind. Je mehr die Bevölkerung über Ursachen und Therapiemöglichkeiten weiss, um so rationaler kann mit der Krankheit „Depression“ umgegangen werden.

Vieles, was mit dem Wort „Stigma“ verbunden ist, hat irrationale Aspekte und löst viel Angst aus. Wissen und Information wirken direkt gegen solche irrationalen Vorstellungen und Ängste. Unbegründete Schuldgefühle und monströse Vorstellungen über psychische Krankheiten können so ausgeschaltet werden. Von grossem Wert sind in diesem Bereich die Aussagen von bekannten Persönlichkeiten, welche in der Öffentlichkeit dazu stehen, dass auch sie schon Depressionen durchstehen mussten, und dass es ihnen doch immer wieder auch gut geht, dass man Therapiemöglichkeiten hat.

In den Therapien ist es wichtig, dass Angehörigen und Arbeitgeber miteinbezogen werden, dies selbstverständlich nur dann, wenn der Patient einverstanden ist. In der Regel macht dies keine Probleme, sondern die Kranken sind dankbar, wenn die nächsten Bezugspersonen in geeigneter Weise miteinbezogen werden und damit auch gut informiert sind. Der Einbezug von Angehörigen dient aber auch dazu, Möglichkeiten der Unterstützung zu prüfen und bei Selbsttötungsgedanken über die Verantwortung zu sprechen, welche alle mittragen sollen. Gemeinsam mittragen heisst aber auch „Verteilen“ der Verantwortung. Therapeuten und psychiatrische Institutionen sind aufgerufen, in der Öffentlichkeitsarbeit und der Information der Bevölkerung nicht nachzulassen. Dies geht bis in den politischen Bereich hinein, wo es nach wie vor Anstrengungen braucht, um die Psychischkranken und Behinderten den körperlich Kranken und Behinderten gleichzustellen.

Für die Betroffenen selber stellen Selbsthilfegruppen eine sehr wirksame und gute Hilfe dar. Sie verhindern Isolation, vermitteln Solidarität und Verständnis. Vor allem lernen Patientinnen und Patienten in Selbsthilfegruppen, dass Depressionen tatsächlich vorübergehen und dass echte Lebensqualität möglich ist.

Oft wurde in den letzten Jahren publiziert, dass Krankheit auch eine Chance sei. Damit ist ein wichtiger aber auch heikler Bereich angesprochen. Es kann für den einzelnen Menschen eine sehr wichtige Erfahrung sein, dass er durch eine Leidenszeit hindurchgehen musste und damit die Erfahrung der Endlichkeit menschlichen Lebens machte. Es braucht aber von den Bezugspersonen sehr viel Fingerspitzengefühl, wie man mit solchen Erfahrung umgeht. Es könnte nämlich sehr zynisch wirken, wenn man einem Menschen in der tiefsten Depression vermittelt, die Krankheit sei für ihn eine Chance, wenn er selbst noch nicht in der Lage ist, dies so zu sehen. Umgekehrt zeigt uns die Geschichte vieler Depressiver, dass sie durch die erschütternden Erlebnisse in der Krankheit zu neuen Werten und Einstellungen gegenüber Leben und Tod fanden, welche sie schlussendlich nach der depressiven Phase als Bereicherung einordnen konnten. Die Auseinandersetzung mit Lebens- und Sinnfragen bekam eine neue Qualität. Auch das Verständnis für das Leiden anderer Mitmenschen wurde in der Regel gefördert und vertieft.

Alle diese Überlegungen dürfen aber nicht dazu führen, das Leiden zu glorifizieren, sondern die Bemühungen müssen mit aller Kraft weiter in die Richtung gehen, Krankheit und Leiden so weit wie möglich zu reduzieren. Sollte trotz aller therapeutischer Bemühungen eine schwere Depression auftreten, kann dem Betroffenen nur gewünscht werden, dass er zu der erwähnten Vertiefung findet. Depressionen entstehen oft auch aus psychosozialen Konfliktsituationen heraus und stellen Warnzeichen dar, dass im Leben allenfalls etwas geändert werden muss. Falls es eindeutig ist, dass die Krankheit als Reaktion auf ein ungelöstes Lebensproblem angesehen werden muss, soll versucht werden, das Übel an der Wurzel zu fassen, das heisst, das „Lebensproblem“ zu lösen. So könnte Depression zu einem Wegweiser im Leben werden. Das Wort „Stigma“ führt im Zusammenhang mit Depression zu tiefgründigen Überlegungen. Es ist zu hoffen, dass daraus Quellen der Kraft, der Hoffnung und des Muts entstehen das Leben so zu bewältigen, dass die positiven Aspekte trotz allem überwiegen.

Aus: Newsletter VI/01. EQUILIBRIUM Verein zur Bewältigung von Depressionen (Hrsg.) Zug.


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