Krankheitsbild

Was ist eine Depression?

Prof. Dr. med. Manfred Wolfersdorf

Traurigkeit, Bedrücktheit, Lustlosigkeit, Resignation oder Wut und Ärger sind Möglichkeiten menschlichen Erlebens und so alt wie die Menschheit selbst. Diese Gefühle können zwar die Gestimmtheit eines Menschen beeinflussen, sind jedoch für sich selbst keine Erkrankung und auch keine 'Depression', wenngleich dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten eine inflationäre Ausweitung erfahren hat. Die Fähigkeit zur Trauer beim Abschiednehmen (-müssen) ist eine ureigene menschliche Fähigkeit und für die innerseelische Verarbeitung eines derartigen Verlustes unerlässlich. Trauer stellt sich etwa beim Verlust eines geliebten Menschen, beim Abschluss eines Lebenskonzeptes, bei der Beeinträchtigung des Selbstbildes - z. B. als immer gesunder und vollbelastbarer Mensch - oder auch beim Verlust subjektiv bedeutsamer Gegenstände ein.

Was dagegen ist nun eine 'Depression'? Die Depression als Krankheitsbild zeichnet sich eher durch die Unfähigkeit aus, Gefühle wie Trauer oder Freude überhaupt empfinden zu können und auf Zuwendung, Anregung, Aufmunterung oder Kontakt von aussen positiv reagieren zu können, ferner auch durch das Gefühl der inneren Erstarrtheit und durch die Erschwernis bzw. die Unfähigkeit, den üblichen Lebensvollzügen nachkommen zu können. Traurigkeit kann dabei Teil eines depressiven Zustandsbildes sein, typischer ist jedoch die quälende innere Herabgestimmtheit.

Begriffsbestimmung und Symptomatik
Das klinische Bild einer Depression lässt sich anhand der Beschwerden, die von Patienten geschildert werden, und anhand beobachtbarer Symptome beschreiben. Dieses akute Querschnittsbild wird als 'depressives Syndrom' bezeichnet und umfasst psychische und körperliche Symptome sowie solche im Bereich des Antriebs und der Psychomotorik. So ist das psychische Beschwerdebild durch eine Herabgestimmtheit des gesamten Lebensgefühls, einhergehend mit Freudlosigkeit, Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit, gekennzeichnet. Daneben kommt es häufig zu Ängsten vor den Anforderungen des Tages, aber auch zu sogenannten Panikattacken, das heisst, frei und meist ohne äusseren Anlass aufsteigenden Gefühlen von Angst, die mit einer vielfältigen körperlichen Symptomatik einhergehen.

Die Logik depressiven Denkens
Hinsichtlich seines Denkens unterscheidet sich der depressiv Kranke vom gesunden Menschen im Wesentlichen nur durch eine Einengung auf negative Erlebensaspekte, nämlich auf Gedanken von Leistungsunfähigkeit, Wertlosigkeit, Versagen, Sinnlosigkeit, Verlust der körperlichen Gesundheit und Integrität. Diese Denkinhalte können sich im Einzelfall von der Sorge über die Einengung auf ein Thema bis hin zur wahnhaft-depressiven, unkorrigierbaren Überzeugung steigern, der schuldigste, schlechteste, unfähigste, sündhafteste oder kränkeste Mensch zu sein, den es überhaupt gibt: "Ich kann nichts, ich bin nichts, keiner mag mich, das war schon immer so, das wird sich nie mehr ändern, es hat gar keinen Sinn, dass ich mich bemühe, wenn es mich nicht mehr gibt, fällt es gar nicht auf, das Beste ist, ich bringe mich um" - so hat es einmal ein depressiver Patient ausgedrückt und damit umfassend die Logik depressiven Denkens beschrieben.

Hinzu kommen Merk- und Konzentrationsstörungen, die keinen Hinweis auf hirnorganische Erkrankung darstellen und häufig mit einem langsamen und mühsamen Denken, einem Hängenbleiben an Gedanken, die immer um die gleiche Thematik kreisen und mit der Unfähigkeit zur Entscheidung, zur Weiterentwicklung, zum Ergebnis, verbunden sind. Die fehlende Perspektive, die Überzeugung der fehlenden Veränderbarkeit und Entwicklungsfähigkeit, Gedanken von Hoffnungs- und Hilflosigkeit, führen über den Wunsch nach Ruhe, nach Pause im Leben, über Todeswünsche hin zu konkreten Suizidideen und -absichten.

Körperliche Begleitsymptome
Hinsichtlich der körperlichen Vitalität beschreiben sich Depressive als energie- und kraftlos, rasch ermüd- und erschöpfbar, wobei oftmals über Störungen der Leibgefühle, also der Empfindungen für den eigenen Körper - so etwa Kopfdruck, Druck hinter den Augen, Druck im Brustkorb wie von einem schweren Stein, Engegefühle wie von einem Reifen oder diffuse Schweregefühle - geklagt wird. Nahezu obligat sind Schlafstörungen, neben Einschlafstörungen auch der zerhackte oder der verkürzte Schlaf mit dem morgendlichen Früherwachen ohne das Gefühl des Erholtseins. Sie sind häufig auch mit sogenannten Tagesschwankungen verbunden, also einem Darniederliegen der Gestimmtheit und des Antriebes am Morgen und Vormittag und einer Verbesserung der Symptomatik in den Abendstunden. Weitere Kennzeichen sind Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust, Libidostörungen und sexuelle Störungen.

Lust- und Antriebslosigkeit sind meist mit einer äusseren Störung der Psychomotorik verbunden, was in einem gehemmten, verlangsamten Bild mit wenig Mimik und Gestik, gebundener Haltung bis hin zur Erstarrtheit, depressivem Stupor oder dann in einer äusseren Umtriebigkeit, Agitiertheit, meist verbunden mit innerer Unruhe und Angst, deutlich wird.

Nach der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD-10) spricht man heute von einer 'depressiven Episode' und meint damit, dass bestimmte Symptome über eine bestimmte Zeitdauer und in ausreichender Häufigkeit vorhanden sein müssen, damit eine depressive Störung von Krankheitswert diagnostiziert werden darf. Der Schweregrad einer depressiven Episode hängt vom Vorhandensein psychotischer Symptomatik (depressiver Wahn), von akuter Suizidgefahr sowie von der Anzahl zusätzlicher Symptome (je mehr Symptomatik, desto schwerer ausgeprägt) und der Leistungseinschränkung in Alltag und Beruf ab.

Depressive Persönlichkeit
Bei den meisten depressiv kranken Menschen findet man auch bestimmte 'Charakteristika' der Persönlichkeit. Ob diese Persönlichkeitsstrukturen Voraussetzung für die Entwicklung einer Depression als Erkrankung sind, ist nicht gesichert, aber naheliegend. Wichtig ist jedoch, dass sich unter den an einer Depression erkrankten Menschen häufig sehr stark norm- und leistungsorientierte und sehr stark beziehungsabhängige Menschen finden, bei denen das Wertgefühl für die eigene Person von der steten Erfüllung hoher und überhöhter, perfektionistischer Normen und vom Vorhandensein sehr enger Beziehungen abhängig ist. Die Entwicklung einer derartigen Persönlichkeitsstruktur hängt mit der Lebensgeschichte des Menschen zusammen. Bei Gefährdung dieser Leistungsfähigkeit und der Beziehungsdichte kommt das Selbstwertgefühl Depressiver rasch ins Wanken. So sind depressiv kranke Menschen sehr kränkbar, sehr verunsicherbar, ängstigbar und sie neigen zu Vermeidungsstrategien.

Die zentralen Ängste Depressiver sind z. B. Angst aus einer schützenden Geborgenheit zu fallen, Angst vor Liebesverlust, Angst vor Trennung, vor Distanzierung, Angst vor dem Verlust von Achtung, Wertschätzung und Anerkennung, Angst vor Verlust bzw. vor Bedrohung von Sicherheit sowie Angst vor Ohnmacht und Hilflosigkeit. Bedingungen, die eine Depression 'auslösen' können, sind dann im Wesentlichen Ereignisse, die auf einen entsprechend strukturierten Menschen treffen und die Verwirklichung von Leistungsorientiertheit und Beziehungsdichte, die Vermeidung von Angst und Bedrohtheit, Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit gefährden. Dies kann eine klassische Verlustsituation sein - etwa des Partners durch Tod oder Trennung - aber auch die Gefährdung der eigenen Person und des Persönlichkeitskonzeptes durch körperliche Erkrankung oder berufliche Veränderung und zwar sowohl Beförderung wie auch Degradierung. Häufig besteht der Eindruck, dass depressiv Kranke nur schwer in der Lage sind, sich an Veränderungen kreativ anzupassen, dass sie Veränderungen und Anpassungszwang also eher erleiden, als aktiv mitgestalten.

Unser heutiges Verständnis von depressiven Störungen ist differenzierter geworden, die daraus ableitbare Therapie anspruchsvoller als früher. Dabei wird deutlich, dass sich unser Verständnis von depressivem Kranksein deutlich verändert hat, dass die Depression im Wesentlichen als ein Langzeit-Problem, als eine Langzeit-Erkrankung und als eine über lange Zeit behandlungsbedürftige Störung betrachtet wird.

Auszug aus dem Heft "Depression: Den eigenen Weg gehen" von Pro Mente Sana. Das Heft kostet Fr. 9.- und kann bestellt werden bei: Pro Mente Sana, Hardturmstrasse 261, Postfach, CH-8031 Zürich, Tel. 01 361 82 72,
Fax 01 361 82 16, E-Mail: kontakt@promentesana.ch, www.promentesana.ch


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