Selbsthilfe

Wie bewältige ich meinen Alltag?

Eveline H., Betroffene

Es gehört zu den schwersten Dingen im menschlichen Leben, der Depression zu begegnen. Auch wenn wir gute Tage haben, wissen wir, dass manche Tage die Hölle sind. Ich bezeichne die Depression als seelischen Tod... Es ist als wäre man lebendtot, als müsste man den Tod lebendig durchleben und durchstehen. Die Depression ist der Verlust jeglicher Schaffenskraft, man zweifelt an allem, und man verzweifelt an sich selbst. Die kleinste Aufgabe scheint nicht mehr lösbar. Nichts geht mehr, alles ist schwierig und man hat laufend Angst, den Anforderungen nicht mehr genügen zu können. Man will, aber man kann nicht mehr. Alles ist dunkel und schwer. Jeder Tag in dieser Hölle ist einer zuviel, die Alltagsbewältigung ist beinahe unmöglich.

Am liebsten möchten wir den ganzen Tag nur im Bett liegen, uns verstecken, mit niemandem Kontakt haben und von niemandem gestört werden. Jeder Anruf, jedes Klingeln an der Tür - Horror!

Es braucht eine riesige Überwindung und unheimliche Kraft, aufzustehen und den Tag zu beginnen, in Angriff zu nehmen, zu leben... zu überleben.

Wenn wir aber aus unserem Untergrund wieder an die Oberfläche gelangen möchten, so müssen wir etwas dafür tun und unseren Alltag je nach den Gegebenheiten gestalten lernen. Es ist wichtig, dass wir eine geeignete Struktur in den Tag bringen.

Wir dürfen uns jedoch nie zuviel auf einmal vornehmen und zumuten, sondern schön langsam einen Schritt nach dem andern tun. Beginnen wir unseren Tag also bereits mit einem gemütlichen Frühstück, ist das schon ein sehr grosser Schritt und ein guter Einstieg in den Tag. Wir dürfen nicht stressen, denn sonst passiert bestimmt irgendein "Unglück", was uns zutiefst frustrieren und uns das Gefühl des Versagens und der Unfähigkeit nur "bestätigen" würde. Nein, im Gegenteil, wir müssen alles langsam aber bewusst angehen und uns vor allem auch selbst loben, wenn wir wieder etwas, einen Schritt und sei er noch so winzig, geschafft haben.

Sind wir berufstätig und können zur Arbeit gehen, so ist das ein grosser Erfolg. Auch wenn wir an diesen Tagen nebst der Arbeit nichts mehr unternehmen oder anpacken können, ist das kein Versagen, sondern eine Stärke, dass wir es überhaupt geschafft haben, die Wohnung zu verlassen und unserer Aufgabe nachzugehen. Vielleicht können wir abends ja sogar auch etwas Positives und Schönes aus diesem Tag mit in den Schlaf nehmen, was unserem Gemüt bzw. unserem Selbstwertgefühl sehr gut tut.

Verbringen wir unseren Tag zu Hause, so versuchen wir ihn so zu leben wie es geht und möglich ist. Kleine Tätigkeiten, z.B. kleinere Haushaltarbeiten, lesen, Radio hören, malen, an der frischen Luft spazieren, sich mit einer Freundin verabreden oder auch nur mit gutem Gefühl entspannen. Nur soweit es machbar ist. Das Schlimmste ist, wenn wir uns unter Druck setzen und somit einen innerlichen Stress verursachen. Das kann zu grossen Panikzuständen führen.

Wenn wir unsere Krankheit und Situation annehmen und dazu stehen, so können wir auch akzeptieren, dass es in unserem Leben Tage gibt, an denen fast nichts geht und wir mehr oder weniger einfach "leben". Das ist keine Schwäche, sondern ein bewusstes Umgehen mit unserem Alltag. Wir wissen, dass unsere Belastbarkeit und Lebensqualität deutlich eingeschränkt sind, und dazu dürfen wir vor uns selbst wie auch vor unserem Umfeld stehen, müssen wir sogar, wenn wir weiterkommen wollen.

An schlechten Tagen können wir keine weitreichenden Entscheidungen treffen und keine grossen Taten vollbringen; das muss ja auch nicht sein, denn wir sind krank und in unserem Handeln eingeschränkt. Konzentrieren wir uns also auf das tägliche Leben und halten uns an unsere selbst erarbeitete Struktur. Wir sollten uns nicht zuviel auf einmal vornehmen, denn wenn wir es dann nicht schaffen, macht sich das grosse Gefühl der innerlichen Wut, des Versagens, der Enttäuschung und schlussendlich der Unfähigkeit und Verzweiflung in uns breit.

Die Tatsache, überhaupt etwas gemacht zu haben, ist ein Riesenerfolg. Denken wir also, wir sind gut genug; wir machen die Arbeit vielleicht nicht so gut wie in unserem gesunden Zustand, doch ist sie gut genug. Zu einem Menschen, der zum Beispiel infolge eines Beinbruchs an Krücken geht, sagen wir ja auch nicht, er solle sich nun aufmachen zum 12-Minuten-Lauf.

Der Alltag ist für einen Betroffenen sehr schwierig zu gestalten. Wenn er es selbst nicht schafft, eine Struktur hineinzubringen, so ist die Unterstützung einer nahestehenden Person sehr hilfreich. Entscheidungen abnehmen, sich unterhalten oder einfach "da sein", Vorschläge machen ohne ihn zu drängen und zu zwingen - das sind wichtige Stützen, die uns unsere Alltagsbewältigung sehr erleichtern können.

Alles ist Weg,
wenn du bewusst lebst.
Alles ist Weg,
wenn du nicht stillstehst.

Ulrich Schaffer


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