Suizidgefährdung

Verzweiflung und Suizidalität

Dr. med. Manuel Rupp

1. Laienschilderung von Verzweiflung und Suizidalität

"Depressiv"
Wenn besorgte Angehörige gegenüber psychiatrischen Fachleuten Verzweiflung beschreiben, verwenden sie häufig den Begriff "depressiv". Dies macht es notwendig, die Bezeichnung in umgangssprachlicher Formulierung umschreiben zu lassen, um zu erfahren, was tatsächlich wahrgenommen wird. Denn Verzweiflung tritt vielgestaltig auf, manchmal gar versteckt. Fast bei allen seelischen Leidenssituationen, auch bei Aggressivität, bei Sucht und bei schizophrener Psychose ist die Verzweiflung ein wichtiges Begleitgefühl.

Verzweiflung
Wir alle wissen, was "verzweifelt" ist: Ergriffen sein von heftigen Gefühlen des Scheiterns und katastrophalen Verlusts. Wir erfahren von Niedergeschlagenheit und Ohnmacht mit Klagen und Weinen, eventuell auch mit stillem inneren Leiden. Wenn wir Zeugen einer solchen Verzweiflung sind, fühlen wir uns zum Trösten und zu Hilfeleistung aufgefordert. Die Verzweifelten haben damit die Chance, sich aus der Einsamkeit ihrer seelischen Not zu befreien und neue Perspektiven zu erfahren, vielleicht gar konkrete Hilfe zu erleben.

Der "Nervenzusammenbruch"
Meist im Zusammenhang mit einem unerwartet belastenden oder angstvoll erwarteten Ereignis kann die heftige Verzweiflung in dramatischer Form Ausdruck finden: Schluchzen, sich auf den Boden werfen, jedoch auch scheinbar verrücktes Wiederholen von stets gleichen beschwörenden Sätzen, was bei den Angehörigen meist intensive Anteilnahme auslöst. Gelegentlich werden mit dem Begriff des Nervenzusammenbruches auch unruhig-komisch-wahnhafte Zustände umschrieben. Damit wird ein Bild beschrieben, das der akuten Belastungsreaktion (siehe unten) entspricht.

Die Selbstverletzung
Selbstbeschädigungen treten häufig bei Personen auf, die durch Ängste und innere Spannungen überflutet werden – meist bei Borderline-Störungen. Die Selbstverletzung unterbricht diese noch unerträglicheren Gefühle. Mit der Selbstverletzung wird eine Grenze gegenüber sich selbst überschritten; es wird das Tabu der eigenen Integrität verletzt. Die grundsätzliche Hemmung, sich zu suizidieren, wird geringer.

Die lebensgefährliche Verzweiflung: Suizidalität
Die unmittelbar lebensgefährliche Form der Verzweiflung ist die Suizidalität. Die seelische Verfassung eines Mitmenschen definieren wir dann als "suizidal", wenn wir mit seiner inneren Bereitschaft rechnen, sich zu töten. Dies kann absichtlich, jedoch auch durch eine entscheidende Unachtsamkeit in einem gefährlichen Moment geschehen. Fast alle über längere Zeit Verzweifelten denken einmal an Suizid. Und wir alle waren wohl schon mal verzweifelt. Doch der Gedanke an eine solche Tat weist noch nicht auf eine unmittelbare Selbsttötungsbereitschaft hin. Für diese braucht es zusätzlich ein Gefühl von Aussichtslosigkeit, eine energische Entschlossenheit und das Wegfallen von inneren und äußeren Hindernissen, um einen solchen endgültigen Schritt zu tun. Viele nehmen sich im Verborgenen das Leben oder tarnen ihre Selbsttötung als Unfall. Wir können ahnen, mit wie viel Scham das Eingeständnis von Verlust, Ohnmacht und Scheitern verbunden ist. Deshalb können wir froh sein, wenn wir Anzeichen für eine solche verzweifelt-gekränkte und zu Äußerstem entschlossene Seelenverfassung wahrnehmen.


2. Krankheitsbilder

Die neurotisch-depressive Verarbeitung von Verlust
Die als unersetzlich erlebte, vermisste Person kann innerlich nicht losgelassen werden: Zur Vermeidung von Wut und andern heftigen Gefühlen wie Ärger gegenüber dieser Person werden jene gegen sich selbst gerichtet: Die eigene Person wird z.B. als Verursacherin des Verlustes betrachtet; es können starke Schuldgefühle und eine Selbstbestrafungstendenz (Autoaggression) entstehen. Zum zusätzlichen Schutz des inneren Bildes der verlorenen Person wird sie idealisiert, wodurch sie erst recht unentbehrlich und damit unersetzlich wird (siehe Fallbeispiel unten bei 'Verlust').

Die Verzweiflung als Folge seelischer Traumatisierung
Menschen, die als Opfer von schlimmen Unfällen, Gewalttaten oder Drohungen schweren Schrecken erlitten, haben eine Gefährdung ihrer Unversehrtheit erlebt, die sich in die bewusste und unbewusste Erinnerung dieser Menschen eingravieren kann. Der heftige seelische Schmerz durch die erlittene seelische Verletzung kann bei manchen Menschen auf die übliche Weise nicht mehr bewältigt werden. Mit seelischen Abwehrformen wie Abspaltung, Verleugnung, Selbstentfremdung, Ausweg in die Psychose usw. wird der schmerzende Teil des Erlebens, oder gar des eigenen Körpers (bei Misshandelten und Missbrauchten) stillgelegt, sozusagen anästhesiert, damit die Person mit einem Rest an Unversehrtheit überleben kann. Dadurch wird viel Energie gebunden, die bei der Bewältigung des Alltags fehlt. Deshalb ist diese Personengruppe sowohl unmittelbar nach einem Gewalterlebnis (akute Belastungsreaktion) wie allenfalls nach mehrwöchiger Verzögerung (Posttraumatische Belastungsstörung PTSD) besonders gefährdet, das seelische Gleichgewicht zu verlieren.

Die Depression
Sie ist keine einheitliche Krankheit, sondern ein charakteristisches Muster einer über Wochen andauernden, schleichenden Verzweiflung mit weinerlicher oder bedrückter Verstimmung (bis hin zu Suizidalität), sowie vegetativen Begleiterscheinungen (v.a. gestörter Schlaf) mit multifaktorieller Ursache. Erst nach eingehenderen Abklärungen, die bei Bedarf auch körperliche Untersuchungen einschließen, kann die Art und die Ursache einer Depression näher bestimmt werden.
Einige Beispiele:

  • Erschöpfungsdepression. Diese Form seelischer Entkräftung entsteht bei überfordernden Lebensaufgaben, verstärkt bei Menschen, die ihre Belastungsgrenzen wenig spüren oder die wenig Möglichkeiten haben, neue Kraft zu schöpfen und sich wirksam helfen zu lassen. In Notfallsituationen trifft man häufig auf solche Zustände.
  • Depressive, neurotische Entwicklung. Die Aufmerksamkeit wird auf das Entbehrte, auf den Mangel konzentriert, wodurch sich rückkoppelnd die Stimmung verschlechtert und die Gedanken sich weiter auf das Negative, die Hoffnungslosigkeit einengen.
  • Depression bei Angstkrankheiten. Die gleichzeitige Erkrankung ist häufig.
  • Wahnhafte Depression: Die Depression ist derart schwer, dass psychotische Symptome auftreten.
  • Depression nach Beginn einer Behandlung mit Antipsychotika.
  • Organisch bedingte Depression: Hormonelle Störungen (Wochenbettdepression), gewisse Stoffwechselkrankheiten (Schilddrüsenstörungen, Zuckerkrankheit, Lebererkrankungen, usw.), schwere Infektionskrankheiten, Blutarmut (Anämie), Tumore, Alzheimer-Krankheit oder Hirnerschütterungen können Depressionen auslösen.
  • Depression bei Essstörungen sind häufig.
  • Depression bei Drogen-, Alkohol- und Medikamentengebrauch oder -entzug. Medikamente können Depressionen auslösen (z.B. bestimmte Medikamente gegen Anfallskrankheiten, Corticosteroide, Beta-Blocker, Empfängnisverhütungspillen, usw.).
  • Versteckte Depression: Psychosomatische Krankheiten. Die Verzweiflung kann sich hinter körperlichen Beschwerden verstecken, die zu verschlüsselten Botschaften des Verlustes, der Kränkung und der Ohnmacht werden.


3. Seelische Dynamik: Wut und Ärger gegen sich selbst

Missbrauch, Missachtung und Demütigung
Durch den Entzug von elementarer Wertschätzung in Beziehungen können schwere Kränkungen ausgelöst werden. Die eigene Person wird nicht mehr als schützenswert, sondern als defekt, schuldig und verachtet erlebt. Parallel dazu können sich Bewältigungsmuster ausbilden, bei welchen ein Teil der persönlichen Integrität preisgegeben wird, um die Zuwendung wichtiger Personen nicht zu verlieren. Wut gegen andere kann auf die eigene Person gerichtet werden. Ein Fallbeispiel:

Eine 28-jährige Krankenschwester nimmt massiv Gewicht ab, nachdem sich ihr langjähriger Freund wegen einer Liebschaft zu ihrer engsten Freundin von ihr getrennt hatte. Sie zieht sich darauf unmerklich aus ihrem übrigen Freundeskreis zurück, um sich mit besonderer Energie in ihre Berufstätigkeit zu stürzen. Erschöpft bricht sie bei der Arbeit zusammen und begibt sich nach einer Aussprache mit der Oberschwester in psychiatrische Behandlung, wo sie nach anfänglicher Skepsis Vertrauen fasst und wieder an Gewicht zunimmt. Sie verliebt sich in einen Arbeitskollegen, der sich nach einem flüchtigen Liebeserlebnis von ihr abwendet. Aus der Abteilungsapotheke nimmt sie Tabletten, die sie alle auf einmal schluckt. Am nächsten Tag erscheint sie nicht in der Psychotherapiestunde. Der alarmierte Therapeut lässt Nachforschungen anstellen. Die Patientin wird bewusstlos gefunden. Nachdem sie auf der Intensivpflegestation erwacht, möchte sie von neuem sterben. Im beschützenden Rahmen einer nachfolgenden Hospitalisation kann sie das ganze Ausmaß ihrer Krise überblicken. Sie entdeckt aufgrund von Erinnerungsspuren, dass sie Opfer sexuellen Missbrauchs in ihrer frühen Kindheit war. Sie setzt die Psychotherapie fort, beginnt sich beruflich anders zu orientieren und baut sich einen neuen Freundeskreis auf. Rückblickend ist sie froh, dass man sie gefunden und reanimiert hat.

Verlust
Tod oder Trennung von nahen Bezugspersonen, zu welchen ein Abhängigkeitsverhältnis bestanden hat, können den Selbstwert oder gar die eigene seelische Überlebenskraft in Frage stellen. Ein solcher Verlust kann als Ausdruck eigenen Versagens verarbeitet werden. Die Ablösung aus der Beziehung erfolgt dann nicht in einem Abschiedsprozess, in welchem das Verlorene betrauert, die gute Erinnerung bewahrt und die Beziehungsenergie auf neue Personen ausgerichtet wird (im sog. Trauerprozess). Sondern es wird durch ohnmächtiges seelisches Festhalten an der unersetzlichen Person das eigene Wohlbefinden geopfert. Eine erschöpfende Verzweiflung, eine Depression entsteht:

Nach einem heftigen Streit mit ihrem Ex-Mann um Unterstützungszahlungen, betrinkt sich eine 36-jährige arbeitslose Frau und Mutter einer 15-jährigen Tochter. Die Frau kann sich nicht von ihrem ehemaligen Partner ablösen. Sie schließt sich in ihr Zimmer ein und spricht laut klagend davon, sich das Leben nehmen zu wollen. Über die Polizeinotrufzentrale erreicht die Tochter einen Notfallpsychiater, der zuhause die Zimmertüre eindrückt und eine völlig verzweifelte Frau trifft. Im Verlauf eines längeren Gesprächs wird die Frau zunehmend nüchtern, schließlich kann eine befreundete Nachbarin beigezogen werden, die die Frau tröstet und hütet, bis sie wieder zuversichtlicher wird. Eine Betreuung von Mutter und Tochter wird organisiert: Eine Sozialarbeiterin hilft die strittige Alimentenfrage regeln. Es ergibt sich mit ihr ein vertrauensvoller Gesprächskontakt, bei welchem die Bewältigung des Alltags im Vordergrund steht. Die Frau nimmt stundenweise eine Tätigkeit als Aushilfe in einem Kiosk auf. Dadurch gewinnt ihre Tochter wieder mehr Freiraum. Diese beginnt eine Ausbildung als Friseuse, wo sie sich wohl fühlt und über den Lehrlingslohn zum Lebensunterhalt beitragen kann.

Schuldgefühl
Verinnerlichte unerbittliche moralische Normen oder überhöhte Selbstansprüche können bei Misserfolgen oder scheinbar unlösbaren Konflikten zum Verlust der Selbstachtung und zu schweren Schuld- oder Schamgefühlen führen. Die Misserfolge werden nicht mehr eingegrenzt wahrgenommen. Sie drohen eine Bedeutung zu erhalten, die über das Ereignis hinaus gehen, gar den Existenzwert der Person zu bestimmen beginnen. Um einer befürchteten Verurteilung durch das eigene unerbittliche Gewissen zuvorzukommen, können solche Menschen sich selbst richten:

Der 58-jährige Leiter einer kleinen Handelsfirma erfährt, dass er die Generalvertretung des umsatzstärksten Produktes verliert. Angesichts der angespannten Finanzlage der Firma versucht er, die Vertretung eines neuen Markenartikels zu erhalten. In einer Art Flucht nach vorn beteiligt er sich an einer Messe, um einen neuen Kundenkreis zu erschließen. Nun vernimmt er das Scheitern der Verhandlung über die Generalvertretung des Produkts; die Messe wird für seine Firma ein Misserfolg. Akut entwickeln sich bei ihm tiefe Versagensgefühle und panikartige Ängste, sodass er nicht mehr ins Büro zu gehen wagt. Schluchzend ruft er die Telefonseelsorge an. Nur noch sein christlicher Glaube halte ihn davor zurück, sich zu erschießen, da er keinen Ausweg aus der geschäftlichen Misere mehr sehe und er seinen Angestellten nicht mehr gegenüber zu treten wage. Die Mitarbeiterin in der Telefonhilfe kann den Mann motivieren, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Es kann nach Einbezug eines Mitglieds der Firmenleitung eine vorübergehende Entlastung organisiert werden. Der Verzweifelte erfährt dabei die Loyalität seines Arbeitgebers. Er kann sich dazu entschließen, einen jüngeren Mitarbeiter zu weiteren Verhandlungen zuzuziehen, die Erfolg bringen. Schließlich lässt er sich früher als vorgesehen pensionieren, um sich mehr seiner Frau und den Enkelkindern zu widmen.

Lebensgeschichtliche Einflüsse können auf diese Weise zu veränderten Erlebens- und Verhaltenstendenzen führen: massive Selbstentwertung, schwere Kränkbarkeit, Hoffnungslosigkeit, verminderte Selbstkontrolle bei emotioneller Belastung, Wendung der Aggression gegen sich selbst, Hemmung des emotionellen Ausdrucks mit der Gefahr von plötzlichen Impulsdurchbrüchen, usw.

Der "letzte Versuch". Nach einer Phase innerer Zermürbung wird bei Verzweifelten und Gekränkten häufig eine Art letzter Versuch unternommen, dem Schicksal eine neue Richtung aufzudrängen. Die Selbstopferung ist ein Aufbäumen gegen das Unwiderrufliche. In der therapeutischen Arbeit werden unterschiedliche Suizidziele erkennbar, die viel mit Scham und Ohnmacht zu tun haben:

Unbewusste Suizidziele

  • Selbstbestrafung. Kategorische Schuldgefühle werden abschließend gesühnt. Es wird damit vermieden, dass in Selbstverantwortung Verhaltensänderungen eingeleitet werden.
  • Schuldgefühle bei Angehörigen. Deren Aufmerksamkeit wird erzwungen. Es wird damit vermieden, das Bedürfnis nach Nähe aktiv wahrzunehmen, um auf andere zuzugehen.
  • Rache. Die Angehörigen sollen öffentlich beschuldigt werden. Es wird damit vermieden, Konflikte beim Namen zu nennen und sich auseinander zu setzen.
  • Kompensation. Durch dramatische Selbstopferung wird Verlust an Selbstbedeutung kompensiert. Es wird damit vermieden, zum Bedürfnis zu stehen, anerkannt und respektiert zu werden.
  • Vereinigung. Im Tod soll eine Wieder-Vereinigung mit einem geliebten Menschen stattfinden. Es wird damit ein Trauerprozess vermieden, so dass keine neuen Beziehungen entstehen können.



4. Beziehungsdynamik: Familien mit depressiven Menschen

Frühphase der Beziehung Depressiver
Viele Mutlos-Bedrückte glauben, dass sie sich ihren nächsten Angehörigen mit konkreten Anliegen nicht anvertrauen dürfen. Sie sind in Angst, anderen zur Last zu fallen und bestrebt, entsprechend ihren hohen Selbstansprüchen alles selbst zu bewältigen. In Konflikten neigen sie zu selbstbeschuldigenden Reaktionen, womit eine beginnende Konfrontation ins Leere läuft. Damit entstehen bedrückend-liebe Beziehungen. Hintergründig lassen sich bei den Partnern von Depressiven ohnmächtige Wut und daraus resultierend Schuldgefühle erahnen, die zu einer scheinbar liebevoll-betreuenden Haltung führen können. Die Partner versuchen, durch ein großzügiges Angebot der Droge "Totale Zuwendung" den erspürten emotionellen Mangel zu beseitigen. Damit findet eine schleichende Entmündigung des Depressiven statt, eine verstärkte Abhängigkeit tritt ein und das depressive Verhalten verstärkt sich - und damit auch die Ohnmacht der Angehörigen. Die Angehörigen melden sich bei Notfalldiensten, da sie selbst mit ihren seelisch-nährenden Kräften am Ende sind.

Spätere Phase der depressiven Konstellation
Die schonende Haltung der Angehörigen kann zusammenbrechen. In einer Art versteckter Ausgrenzung wird der mutlose und klagende Partner zum Patienten der Familie; der Respekt vor ihm nimmt ab. Er kann auf diese Weise in eine Pseudo-Kindrolle geraten. In Notfallsituationen trifft man bei solchen Familien häufig auf bitter gewordene Angehörige, die seelisch entkräftet - oder anders ausgedrückt: depressiv - sind. Gelegentlich entsteht eine schleichende Feindseligkeit, die zu Entfremdung zwischen den Partnern führen kann, bis es zum inneren Bruch kommt.


Exkurs: Suizidabsicht - seelische Krankheit oder freier Willensakt?

Die verwirrende Ambivalenz der Suizidalen
Der Suizidale, der ausdrücklich oder auf indirekte Weise seine Mitmenschen alarmiert, gibt seine innere Zerrissenheit zu spüren: Manchmal ein letztes Notsignal! Wenn Angehörige auf einen alarmierenden Hinweis nicht reagieren, deuten dies Verzweifelte als Bestätigung einer vermeintlichen Ablehnung ihrer Person. Wenn Helfende jedoch darauf eintreten, überträgt sich auf sie ein Teil der Wut der Suizidalen auf ihre Mitmenschen. Die Nothelfer erleben einen beginnenden, verzweifelt-trotzigen Abschied aus dem Bezug zu andern. So ist es durchaus möglich, dass Helfer bei sich Gefühle von Ärger, gar Wut oder sarkastischer Zurückweisung erleben ("wenn er unbedingt will, soll er sich doch umbringen!"). Suizidale prüfen denn auch häufig die Ernsthaftigkeit des Hilfe-Engagements, das in der Not zum Gradmesser des eigenen Selbstwertes werden kann.

Existentielle Wertfragen
Die Suizidalität deutet auf eine Not in einem menschlichen Bezugssystem hin. Es gibt in unserem Kulturkreis wenige Ereignisse, die derart traumatisch auf ein Beziehungsnetz einwirken können, wie ein Suizid - die unwiderrufliche einseitige Kündigung des Zusammenlebens. Dies löst Fragen aus: Ist Suizidalität eine Krankheit oder ein Krankheitssymptom oder ist die Selbsttötungsabsicht Ausdruck einer selbstverantworteten Willensentscheidung? Gibt es ein moralisches Recht auf Selbsttötung? Wie steht es mit der Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, z.B. bei Eltern gegenüber ihren Kindern? Wir müssen erkennen, dass eine rasche Abwägung derart vielschichtiger Probleme - wie das Recht auf Selbstbestimmung im Sterben - in einer Situation akuter Verzweiflung nicht möglich ist. Vor allem kann es nicht Aufgabe der Notfallhelfer sein, letzte Instanz für eine grundlegende existentielle Entscheidung zu sein, die nach meiner Überzeugung von den Betreffenden, in besonnenem Zustand, allein verantwortet werden muss. Die Erfahrung zeigt, dass die allermeisten Menschen - einige Zeit nach einem Suizidversuch - froh darüber waren, diese seelische Katastrophe überlebt zu haben.

Aus: Notfall Seele. 2. Auflage erscheint voraussichtlich im Dezember 2002. GEORG THIEME VERLAG, Stuttgart.


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