Ursachen und Sinn

Ursachen ?

Kurt H., Betroffener

Verstehen Sie,
die Frage nach dem 'Woher und Warum' kann ich für mich nicht befriedigend beantworten. Vieles trug wohl dazu bei, wie ich mich heute fühle, was ich denke, tue oder eben nicht tue:

Eltern, Erziehung, Veranlagung und wohl auch eigene Versäumnisse. Das schon in jungen Jahren vorhandene Gefühl des irgendwie 'nicht so sein wie andere' (es entwickeln sich keine echten Interessen, Freudlosigkeit bis hin zu unerklärlicher Traurigkeit, Hemmungen aller Art, Unsicherheit usw.) führten bei mir wohl zu einer bestimmten Lebensweise (unbewusste Strategie?), bei welcher ich bis heute noch dazu tendiere, Unannehmlichkeiten, Konfrontation, Nähe und ernster Auseinandersetzung mit wichtigen Lebensfragen auszuweichen.

Früh ziehe ich aus der elterlichen Wohnung aus und 'gewöhne mich ans Alleinsein' und entwickle wohl auch eine Art Egozentrik dabei. Soziale Phobie? Wohl auch: Forsch und selbstbewusst auftretende Menschen machen mir Angst. Ich bilde mir ein, dass andere meine 'Fassade' schnell durchschauen. Das verstärkt die Angst. Ich schäme mich für mein Gefühlschaos und 'So-sein' einerseits und bemühe mich andererseits, der Umwelt zu gefallen und sympathisch zu erscheinen. Schein ersetzt Sein.

Folge: Viele Jobwechsel - viele oberflächlichen Frauenbeziehungen (ich verliebe mich nicht) - Schlaflosigkeit - Grübeln - Ängste - innere Unruhe - Arbeitslosigkeit - psychosomatische Erkrankungen - Depressionen - manische Phasen - Arbeitsunfähigkeit. Heute beziehe ich eine IV-Rente und schaffe es wieder, rund 3 Stunden pro Tag als Autokurier zu arbeiten.

Auszug aus einer Tagebucheintragung vom Februar 2002:

... es ist m e i n Leben, mit dem ich nichts anzufangen weiss. Ich spüre nichts als ein dumpfes Gefühl von Sinnlosigkeit, Angst, Schmerz, Kraftlosigkeit, Gelähmtheit und Traurigkeit. Ich habe keine Pläne, Träume, Wünsche, ausser einfach mehr Geld... (spinn' ich jetzt ganz?) Oder schnell zu sterben. Ich spüre und weiss nicht, was ich im Leben soll... Und das war eigentlich immer so.

Unerklärliche Traurigkeit. Manchmal kommt mir, wenn ich dennoch nach einer Art Erklärung suche, dazu ein Bild - verschwommen zwar nur - in Erinnerung:
Ich sitze am einen Ende des Küchentisches und meine Mutter gegenüber. Wie alt bin ich da? Vielleicht 11 oder 12? Ich weiss es nicht mehr genau. Sie, die Mutter, ist 30 Jahre älter. Sie hält sich die Hände vors Gesicht, erbärmlich schluchzend und voller Verzweiflung. "Warum nur, warum, bin ich ihm (ihr Ehemann, unser Vater) in dieses Land gefolgt. Diese Kälte der Leute hier. Warum bin ich nicht in Österreich geblieben?! Ach, hätte ich doch nur auf meine Mutter gehört. Sie hat mich schon immer vor diesem Mann gewarnt. Sie hat's gespürt! Ich will weg von hier. Mit dem 'Papa' (ihr Ehemann, unser Vater) kann man nicht reden. Er will keine Freunde. Er ist voller Misstrauen. Ich fühle mich so allein und einsam. Er redet nicht." - Ich rede übrigens auch nicht, sitze nur da... und leide (mit). Ich will, dass es aufhört. Es schmerzt. "Ich kann nicht mehr", schluchzt sie aber weiter. Und: "Ich will nicht mehr. Ich will zurück..." Dann wieder herzzerreissendes Schluchzen, schiere Verzweiflung. Zwischendurch lamentiert sie, dass in Österreich alles besser als in der Schweiz sei, die Menschen freundlicher, wärmer, herzlicher. Ich sitze da, und weiss eigentlich nicht genau, zu wem sie überhaupt spricht. Aber halt, sie spricht manchmal von 'Papa', also weiss sie eigentlich doch, dass ich da bin - ihr Sohn. Ich bin ja da im selben Raum, aber sie 'spricht' nicht wirklich mit mir, sie schaut mich kaum an. Sie klagt an. Ja, ich glaube, sie klagt mich an! Es ist sonst ja niemand da. Nur sie und ich. Ich sitze auf der Anklagebank. Ich glaube spüren und lernen zu müssen, dass ich mitschuldig bin an ihrem traurigen Schicksal, dass sie zur Verzweiflung bringt, weil... weil ich eben da bin, geboren wurde. Ungewollt, unerwünscht, und dazu noch im falschen Land! Sie, die Österreicherin, in Finnland geboren, war schwanger mit mir, dem Erstgeborenen, bevor sie meinen Vater, den Ostschweizer, heiratete (heiraten musste?). Der Grund wohl, weshalb sie hier in der Schweiz gelandet ist. Und kalt und ohne Gefühl, sei ich (oder auch wir - habe noch einen jüngeren Bruder), wie der Vater. "Ich bin so unglücklich hier", wimmert sie immer wieder. - Nicht nur an jenem Tage. Es gab manche solcher trost-losen Tage.

Und vielleicht, ja vielleicht, verstehen Sie, vielleicht nur ist hier ein Mosaiksteinchen zur Ursache auszumachen: iHR Schmerz, iHRE Hoffnungslosigkeit, iHRE Verzweiflung, iHRE Unfähigkeit damit umzugehen oder etwas an ihrer Situation zu ändern, iHRE Wut (auf ihren Ehemann - unseren Vater, auf die Schweiz und die kalten Menschen hier, auf mich, auf sich selbst?) habe ich damals möglicherweise unbewusst in mich aufgenommen/übernommen und trage all dies seither mit mir herum... ein Leben lang und sitze da, verzweifelt, früher auch weinend, ohne Hoffnung und ohne Ziel mit dem Gefühl von Schuld, zumindest Mitschuld. Und ich klage mich an dafür, dass ich selbst nichts tue, um meine Situation zu ändern, dass ich verzweifelt bin, dass ich traurig oder wütend bin, dass ich alleine bin und den Menschen und auch mir nicht traue.

Wissen Sie, es ist mir schon ein paar Mal aufgefallen, dass ich nicht selten in Selbsthilfegruppen für Depressive Leute traf mit einem Elternteil, der/die damals als Fremde/r ins Lande kam (fremde Sprache, Kultur, Religion). Der Begriff Entwurzelung kommt mir dabei immer in den Sinn. Auch ich fühle mich oft entwurzelt, obwohl ich hier geboren bin!!! Ich habe oft das Gefühl, nirgends dazu zu gehören. Ein Fremder im eigenen Land. Fühle mich nirgends geborgen, zuhause oder einfach wohl. Der einsame 'Held', der immer wieder das Weite sucht. Ohne Heimat. Versuche ich immer noch wie Sisiphus, Kontakte herzustellen, Wurzeln zu fassen in diesem Land und in diesem Leben mit der selben Erfolglosigkeit wie damals meine Mutter? Bin ich verflucht, ihre Scheissgefühle ein Leben lang zu reproduzieren und mit mir herumzuschleppen? Ist es die berühmte Nabelschnur, die es zu kappen gilt?

Ach was! Ich weiss nicht, warum ich so bin, wie ich bin. Ehrlich. Morgen habe ich bereits eine andere Theorie. Oder drei oder vier andere... Wahrscheinlich sind es halt doch verschiedene Faktoren. Oder ich bin wohl einfach labil, faul, unfähig. Manchmal auch "äs Sensibäli", "äs Weichei"! Der Zugang zu meinen Gefühlen ist unterbrochen. Negative Erfahrungen (Flops) haben zu meiner Verlierer-Mentalität geführt. Meine Gehirnströme fliessen nicht wie bei andern. Manchmal bin ich blockiert. Manchmal voller Angst. Ich sollte mir vielleicht einen dieser innovativen Hirnschrittmacher einpflanzen lassen!...

Bezüglich der Entstehung des Universums heisst es oft: Am Anfang war der Ur-Knall. Eine tolle Ausbeute nach unzähligen Jahren wissenschaftlicher Forschung! Stellt uns eine solche Antwort wenigstens halbwegs zufrieden? Ja? Führt sie nicht stattdessen gleich zur nächsten Frage: Ja, was war denn vor dem Urknall??

Es ist, so befürchte ich, bei den Ursachen für Depressionen ebenso... ein Suchen ohne Ende, ohne befriedigende Erklärung(en). Es ist nutzlos und macht daher keinen Sinn.


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